Nachdenklich im Leben und im Roman: Heinrich Böll; ©Marcel Antonisse/Anefo

Der Unermüdliche

Vor rund einem halben Jahrhundert hat Heinrich Böll den Literatur­nobelpreis bekommen. Heute ist vor allem sein Engagement in Erinnerung. Dabei wäre es Zeit, sein schriftstellerisches Werk wiederzuentdecken

An der gläsernen Haustür erinnern dünne Buchstaben und sein Konterfei an Heinrich Böll. Teutoburger Straße 26, sein Geburtshaus mit taubengrauer Fassade. Wolken ballen sich über den kahlen Ästen der Bäume, der Verkehr spärlich im Sinne Bölls, dem die verkehrsplanerische und bauliche Entwicklung seiner Heimatstadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sündhaft schien. Aber da rührt man schon an Projektionen, die den Blick auf Bölls Literatur möglicherweise trüben.

Anfang Dezember, wenige Tage bevor sich zum 50. Mal die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Heinrich Böll am 10. Dezember 1972 jährt, suche ich nach ihm, dem großen Sohn der Stadt und Referenzpunkt meiner schriftstellerischen Arbeit. Bis zu seiner Einberufung lebte der jugendliche Böll unweit seines Geburtshauses, etwa in der Maternusstraße 32, am Ubierring 27, streunte häufig durch die Nachbarschaft statt zur Schule zu gehen. Die Südstadt, damals Sammelbecken von Unternehmertum und Bettlern, Prostituierten und Kleinbürgertum, Arbeiter*innen und Kaufleuten, muss die Keimzelle einer Literatur gewesen sein, die psychologische Einfühlung insbesondere in gesellschaftliche Randexistenzen zeigte, ohne zu exotisieren oder voyeuristisch zu werden.

Schon im Frühwerk sind Bölls verletzliche Figuren allerdings der Gegenstand anspruchsvollen polyperspektivischen Erzählens wie in den Romanen »Wo warst du, Adam?«, »Und sagte kein einziges Wort« oder »Haus ohne Hüter«. Das literaturkritische Verdikt vom Waschküchenmief, von biederer literarischer Form, den Euphemismus »Sozialrealismus« habe ich nie verstanden. Vielleicht liegt es daran, dass ich Böll mit dem 1959 erschienen Roman »Billard um halb zehn« kennenlernte, den ich in einem Germanistik-Seminar in Hamburg und seitdem viele weitere Male gelesen habe, und der bis heute mein Lieblingsbuch von Böll geblieben ist. Die Verwebung der Geschichte dreier Generationen der rheinischen Architektenfamilie Fähmel mit Nazideutschland und den postfaschistischen Kontinuitäten wird von der ambitionierten Erzählästhetik unterstützt, die in sprunghaften Brüchen äußeres Geschehen an ausschweifende mündliche Erzähl­ungen und innere Monologe der Figuren montiert.

In Bornheim-Merten, wo Böll ab Anfang der 80er Jahre bei seinem Sohn René lebte und wo er begraben ist, will ich nur nach dem Haus fragen, in dem die Bölls in der Martinstraße lebten. Eine Anwohnerin, kurzes graues Haar und runde Brillengläser, zeigt auf ein renoviertes, weiß verputztes Mehrfamilienhaus. Der Vollständigkeit halber frage ich, ob sie den Schriftsteller gekannt habe.

»Natürlich. War ein ruhiger Typ. Überhaupt nicht abgehoben. War einer wie alle, so wie Sie und ich.«

»Den haben Sie einfach so hier draußen auf der Straße getroffen?«

»Trug einen Lodenmantel und Baskenmütze.«

»Und rauchte dann sicherlich immer, wenn man ihn draußen spazieren gehen sah?«

»Das eigentlich nicht, nein.«

Sie sagt, was alle sagen, aber wenigstens höre ich einmal aus erster Hand, dass Heinrich Böll frei von Allüren gewesen sein soll, geerdet selbst als Nobelpreisträger. Das Grab des Ehepaars auf dem Alten Mertener Friedhof findet man nicht, wenn man nicht von ihm weiß. Spärliche Grabsteine, auf dem Boden liegende Steinzylinder, die goldgelben Inschriften so verwaschen, dass man Annemarie Bölls kaum lesen kann.

Man sei Heinrich Böll im Ort aber auch skeptisch begegnet, hatte die Anwohnerin in der Martinstraße noch gesagt, habe ihn als »den Kommunisten« abgestempelt. Als Böll 1982 nach Merten zog, lag ein Jahrzehnt der persönlichen und politischen Kämpfe hinter ihm.


Ich stelle mir vor, dass Böll den Protest gegen die Elon Musks und Mark Zuckerbergs der Gegenwart angeführt hätte

Am 10. Januar 1972 erschien im Spiegel Bölls Kritik des Tatsachen verdrehenden Sensationsjournalismus der Bild rund um die RAF, die das konservative Establishment auf den Plan rief. Diffamierungen, Falschinformationen und Stimmungsmache der Springer-Presse folgten, es kam zu Hausdurchsuchungen bei Familie Böll, die als Helferin der RAF galt. Spätestens seitdem existierte der Schriftsteller Heinrich Böll nicht mehr ohne die Figur des öffentlichen Intellektuellen.

Ausgerechnet, wo seine Bücher am politischsten sein wollen, ist Böll literarisch am fragwürdigsten. »Die verlorene Ehre der Katharina Blum«, das 1974 die Hetzkampagne gegen Böll und seine Familie verhandelte und eines seiner kommerziell erfolgreichsten Bücher wurde, ist weitgehend ein »erzählerisch verkleidetes Pamphlet«, wie der Autor selbst in einem Nachwort zehn Jahre nach Erscheinen eingeräumt hat: kaum Ambivalenzen, kaum Grautöne in der Figurenzeichnung. Bölls späte Gedichte knöpfen sich katholische Doppelmoral und kapitalistische Stadtplanung (»Köln III«) oder die Absturzserie der Bundeswehr-Starfighter (»Aufforderung zum ’Oho’-Sagen«) vor, aber schaffen selten poetisches Flirren.

Aller Resignation zum Trotz sprach der 63-jährige Böll noch 1981 vor über 300.000 Menschen, die gegen atomare Aufrüstung demonstrierten, auf der Bonner Hofgartenwiese, auf der er im September 1945 aus US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war. Böll war ein Mann, der verzweifeln konnte, sich seine Hoffnung aber nie nehmen ließ, dass Symbole, Repräsentationen, die Sprache einen Unterschied machen. »Worte wirken, wir wissen es, haben es am eigenen Leib erfahren«, so Böll 1958 in seiner Dankesrede für den Eduard-von-der-Heydt-Preis der Stadt Wuppertal.

Ich stelle mir vor, dass Böll den Protest gegen die Elon Musks und Mark Zuckerbergs der Gegenwart angeführt hätte. Er hätte gegendert, hätte in Lützerath gegen die Kohlebagger von RWE sein Zelt aufgeschlagen. Böll schriebe glühende Verteidigungen der Letzten Generation gegen die Bild und ihre sensationslüsterne Alliteration »Klimakleber«. Gesellschaftliche Debatten fänden nicht ohne Böll statt. Laut einer Allensbach-Umfrage kannten Ende der 70er Jahre rund neunzig Prozent der Deutschen Heinrich Böll — undenkbar für Gegenwartsautor*innen. Gleichzeitig hatte die Zuschreibung vom Gewissen der Nation, an der Böll nicht unschuldig war, den Preis, dass er missverstanden wurde als jemand, dem das Schreiben bloß Vehikel von Moral und Politik war, und seine schriftstellerischen Fähigkeiten bis zum Schluss angezweifelt wurden. Das Verhältnis von Literatur und Politik ist ein prekäres. Böll war es innerer Antrieb, aber seinen Büchern und seiner öffentlichen Wahrnehmung zuweilen auch Schatten. Zeit, Bücher wie »Frauen vor Flusslandschaft« wieder zu lesen, Bölls letzter Roman und alles, nur nicht konventionell erzählt.

Das Werk von Heinrich Böll ist bei KiWi erhältlich.