Aufgeladenes Milieu © AlamodeFilm

Holy Spider

Ali Abassis Thriller nach wahren Begebenheiten trifft den Nerv der realen Proteste im Iran

Said Hanai, der Anfang der Nullerjahre im Ost-Iran 16 Prostituierte ermordete, stilisierte sich selbst als Volksheld und Kämpfer gegen moralische Verderbtheit. »Holy Spider« ergänzt die realen Ereignisse um die fiktive Figur der Arezoo Rahimi. Die investigative Journalistin trifft die im Elend lebenden Opferfamilien und begibt sich selbst als Köder auf die nächtlichen Straßen. Filmemacher Ali Abassi, 1981 in Teheran geboren und seit 2002 in Schweden lebend, hat sich bereits mehrfach Gestalten mit einer ausgeprägten Nachtseite zugewandt, etwa 2018 mit Schwedens Oscar-Kandidat »Border« über eine nicht ganz menschliche Zollbeamtin. »Holy Spider« geht nun mit vier Nominierungen ins Rennen um den Europäischen Filmpreis. Sahra Amir Ebrahimi, als Darstellerin der Arezoo bereits auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet, hatte 2006 wegen eines so genannten Sextape-Skandals den Iran verlassen müssen.

Dort wurde »Holy Spider« als politisch motiviert verboten, allen iranischen Mitwirkenden hat man Konsequenzen angedroht. Ähnlich wie Salman Rushdies »Satanische Verse« beleidige der Film die Gefühle von Millionen Muslim:innen. Das liegt nicht am Sujet allein, im Iran entstand nur kurz zuvor der ebenfalls sehenswerte »Killer Spider«, dessen Regisseur Irajzad mit Abbasi wegen eines Plagiatsstreits im Clinch liegt. Und bereits 2002 befragte der bekannte Journalist Maziar Bahari den wenig später hingerichteten Serienmörder Hanai für seinen Dokumentarfilm »Along came a spider« — die Interviews sind Inspirationsquelle zahlreicher Dialoge und Figuren bei Abassi. Doch wie kaum ein anderer zeigt Abbasi mit seinem ebenso hypnotischen wie beklemmend inszenierten Thriller einen Iran ohne Grautöne: Heroinkonsum, Armutsprostitution, bigotte Geistliche, übergriffige Polizisten, und eine vorgeblich religiöse, aber ihren schwächsten Gliedern gegenüber unbarmherzige Gesellschaft.

Das alles im »heiligen« Maschad, der zweitgrößten Stadt des Iran, deren Schrein jährlich Millionen Pilger:innen anzieht. In diesem aufgeladenen Milieu wird der 39-jährige Serienkiller und Familienvater Hanai zum Symptom ­eines frauenverachtenden Systems — gefeiert von Nachbarschaft, Kollegen und Verwandten. Das ist einseitig und drastisch und trifft genau den Nerv, der die protestierenden Iraner:innen aktuell trotz aller Gefahr auf die Straßen treibt.

F/DK/S/D 2022, R: Ali Abassi, D: Sahra Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Arash Ashtiani, 119 Min.,