Gewisse Klischees, konkrete Vorbilder: Nikolai Szymanski; © Luis Nelsen

Das Reich der Mitte zwischen Düsseldorf und Köln

Nikolai Szymanski unternimmt mit Airchina pseudo-asiatische Ausflüge

»Da waren die Berge, und da war das Meer, da war das Land … am Ende war es das wert. Was sind schon tausend Tage / für einen Vollzug? Alles wird gut!« Als wir Nikolai Szymanski das letzte Mal haben singen hören, da war das Anno Domini 2016 und noch mit seiner Band Stabil Elite.

Die Landeshauptstadt-Neo-Krauter waren seit 2007 die musikalische Heimat des Düsseldorfer Szymanski, der das Projekt damals mit Lucas Croon und Martin Sonnensberger aus der Taufe gehoben hatte. Zwischendurch schaute die Trommel-Biene ­Niklas Wandt vorbei, 2012 wurde Timo Hein für den Bass adoptiert.

Schnell machten sich die ­Stabil-­Elite-Jungs einen Namen, nicht weil sie ihren Bandnamen dem Kultfilm »Das Millionenspiel« entborgten, sondern weil sie es vermochten, nach rheinländischer Musikgeschichte zu klingen, ohne Can, Kraftwerk oder Neu! zu imitieren. Ihr erster Hit, »Gold«, erzählte als wavy Song so geschickt und charmant von der Sage des König Midas, dass wir einen Sommer lang landauf, landab — so auch bei der c/o pop, die das Lied zum Festivalsoundtrack machten — überall den Song hörten.

Es folgte 2012 das Album »Douze Pouze«, etliche Höchstnoten in Musikmagazinen und die unausweichlichen Einladungen für Touren sowohl in Deutschland als auch in der weiten Welt: Israel, Vietnam, China. Gleichzeitig arbeitete Szymanski an einem, wie er heute sagt, sehr stiefmütterlich behandelten Solo-Projekt namens Fanta Dorado und der Innere Kreis: »Das war im Rahmen der LP-Produktion von Stabil Elite entstanden. Ich bin meist länger im Studio geblieben und versuchte, lo-fi nochmal einen eigenen Sound zu finden.« Nein, noch war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu freizuschwimmen, kann man rückblickend sagen. Die Arbeit mit der Band habe weiterhin Spaß gemacht, auch wenn es sich längst abzeichnete, dass ein zweites Album dauern könnte.

Szymanski studierte unterdessen an der Kölner KHM, produzierte Video-Kunst, stellte aus und spielte zwischendurch Konzerte. Erst 2016 kam dann Stabil Elites Zweitling »Spumante« mit seinem ikonischen Cover: zwielichtige Jungs in einer zwielichtigen Bar. Man roch förmlich den Mix aus After-Shave, Pomade, Seidenhemden und gutem Cognac. Statt Aufbruchsstimmung gab es aber Dämpfer: »Eigentlich mussten wir wieder bei Null anfangen, weil wir so lange gewartet hatten mit dem Nachfolger. Da hieß es wieder ›auf Tür‹ spielen. Der Aufwand war sehr groß, der Ertrag gering.« Er spricht von der aufwändigen Logistik, die ein Stress- und Kostenfaktor gewesen sei, den man als Band gar nicht mit sich herumtragen wollte.

Also ergab es sich, dass Stabil Elite auf Eis gelegt wurde (»Wir haben uns aber nie getrennt!«). Mit der Musik hatte der zum Videokünstler gereifte Szymanski jedoch nicht abgeschlossen. Er nahm den Soundtrack einer Video-Arbeit, die er in der Zwischenzeit gedreht hatte, zum Anlass, einfach solo weiter zu machen. Der Titel des Videos: Airchina. So sollte denn auch gleich das ganze Projekt heißen. Das Reich der Mitte kommt aber nicht auf dem 2018 erschienenen Debüt vor, das Szymanski nonchalant »LP1« betitelte. Es ließ sich von japanischer Popkultur inspirieren, etwa vom Komponisten Ryuichi Sakamoto. »Der Name Airchina«, so resümiert er lässig bei einem Kaffee in der Düsseldorfer Innenstadt, »war ein lustiger Kommentar auf provinzielle ­Stereotype, wo alles asiatische eins ist.«

Die erste LP glänzt in diesem Spiel aus gewissen Klischees und konkreten Vorbildern; der Inhalt war gleichsam nebensächlich. Es ging eher um Maximen, die sich als Antwort, als Gegenbewegung zur Band-Arbeit entwickelten: Frühe, einfache digitale Synthesizer, zurückhaltende Kompositionen, viele Wiederholungen, keine Beats. Aus diesem Grundstock bedient er sich für »LP1«, um seine ambientesken Tracks zu produzieren. Das Feedback war gut, gerade im Rheinland zeigten sich die Leute interessiert.

2020 folgte »LP2«. »Ich bin nicht der Riesenfan vom zweiten Album«, gesteht Szymanski im Gespräch. Es war ein Schnellschuss. Ein Fehler? »Ich habe mich hinreißen lassen; es hatte sich spontan eine Möglichkeit zum Release ergeben.« Ihm gefallen, so sagt er, immer noch zwei oder drei Tracks ganz gut. Nur ausgereift sei das nicht gewesen. Der Sprung, den Airchina als Projekt im Jahr 2022 nimmt, ist dafür umso größer.

»LP3« klingt merklich anders. Von Japan — ob nun real oder als Phantasie in westlichen Köpfen — kündet hier gar nichts mehr. Stücke wie der Opener »Drifting« erinnern dafür tatsächlich an die Düsseldorfer Fundamental-Gruppe Kraftwerk und den »Trans-Europa-Express«. Er habe sich vor allen Dingen von nächtlichen Gesprächen über Theorien und Politik inspirieren lassen, auch die Lockdown-Maßnahmen hätten etwas geändert an seinem Ansatz. Szymanski wirkt stolz, wenn er von der Platte erzählt.

Was zunächst als Gegenprogramm zur Band begann, hat sich bereits weit entwickelt: »Über den Jam mit mir selbst und ausgestattet mit der ganzen Narrenfreiheit eines Solo-Projekts, wo es nicht mehr um Kompromisse geht, bin ich zu einer selbstbewussteren Spielhaltung gekommen.« Das Studio-Projekt, das zu Beginn ohne Live-Variante erdacht wurde, findet sich deswegen auch auf Bühnen wie vor kurzem im Kölner Acephale wieder. Auserzählt ist Airchina auch mit dem dritten Album nicht, das merkt man. Neue Facetten zeigen sich hier, finden Vorgänger in Cluster und den Solo-Werken von Hans-Joachim Roedelius, dann erkennt man bei einem Track wie »THROUGH« ebenso Reverenzen an frühen Techno, an Global Communications und andere »spacige Tunes«, die zwischen Chill-Out und Brain-Dance changieren.

Die Stücke leben nicht mehr von langen Wiederholungssequenzen, sondern wirken wie lebende Strukturen, die sich fortbewegen, pulsieren, atmen. »Seit der ersten Platte versuche ich Musik linear zu komponieren«: Statt Perlen und Kästchen, die herum geschoben werden, ergeben sich freie Erzählungen, die auf einem Zeitstrahl Richtung Zukunft leben.

Szymanski ist heute in Airchina voll aufgegangen. Was wiederum neues Begehr weck. Er denkt an weitere Band-­Projekte, die sich demnächst ergeben könnten, wo man »auch mal Verantwortung abgeben kann«. Außerdem hört man auf dem ­Closing-Track »PARKS« des neuen Albums endlich wieder seine Stimme. Noch singt sie nur »In Parks«, aber es könnte bald mehr folgen. Denn eins ist klar: Alles wird gut