Auf dem Prüfstand: Queere Kinderliteratur, Foto: Pexels

»Es geht darum, die Binarität aufzubrechen«

Nadine Seidel, Juniorprofessorin für Kinder- und Jugendliteratur, über queere Kinderbücher, die manchmal auch problematisch sind

Frau Seidel, in den letzten Jahren sind viele Kinderbücher erschienen, die sich mit Diversität und Queerness, also einem Gegenentwurf zur Hetero­normativität, auseinandersetzen. Eine gute Entwicklung, oder?

Auf der einen Seite, ja. Es ist grundsätzlich positiv, dass diese Themen endlich auch in der Literatur für Kinder abgebildet werden. Nach der Inklusions­welle, die auch schulpolitisch überschwappte, haben die Verlage erkannt, dass Geschichten zu Diversität und Vielfalt auf gewisse Weise »schick« und damit auch gut zu vermarkten sind. Wenn man die dazu in den letzten zehn Jahren veröffentlichten Bilderbücher einmal genauer durchblättert, wird es schnell problematisch.

Inwiefern?

Häufig werden in diesen Büchern, die immer gleichen Geschichten erzählt. Da gibt es eine Außenseiterfigur, die irgendein Differenzmerkmal besitzt, also »irgendwie anders« ist, und die »normale« Gesellschaft. Auf den nächsten Buchseiten geht es meistens um den Kampf dieser nicht-integrierten Figur um Akzeptanz. Ein Beispiel: In dem Bilder­buch »Irgendwie anders«, das auf jeder Empfehlungsliste für diverse Kinderliteratur steht und von der UNESCO sogar ausgezeich­net wurde, wird diese Figur auf wirklich grausame Weise aus der Gemeinschaft verjagt und lebt fortan mit einer weiteren als nicht-­passend gekennzeichneten Figur fernab der Gemeinschaft in einer Koexistenz. Und in dem Buch ­ »Jill ist anders« zum Thema ­Intergeschlechtlichkeit gibt es ein regelrechtes Kinder­garten-Tribunal, bei dem das Kind seine Geschlechtsorgane auf eine Tafel malen muss, um sich zu erklären und zu legitimieren.

Manche Bücher sug­gerieren, dass es sich um diversitätssensible Texte handelt — und reinszenieren­ doch »queere Anders­artigkeit« Nadine Seidel

Das klingt extrem problematisch.

Diese Bücher suggerieren, dass es sich um diversitätssensible oder inklusionsorientierte Literatur für Kinder handelt — und reinszenieren dann doch immer wieder »queere Andersartigkeit«. In der Presse werden diese Bücher häufig auch noch positiv rezensiert, was den Eindruck verstärkt, die Geschichten würden einen schönen Umgang demonstrieren.

Was würden Sie raten: Auf was gilt es bei der Suche nach wirklich guter, queerer Kinderliteratur zu achten?

Es geht zunächst darum, diese Binarität von »Normalität« und »Andersartigkeit« aufzubrechen, sie von vorne herein zu dekonstruieren. Zentrale Fragen, die ich an ein Buch stelle, sind: Wie divers sind die dargestellten Figuren? Sind sie alle weiß, werden People of Colour dargestellt? Bietet die Geschichte einen Weltentwurf an, in dem Werte jenseits der Heteronormativität vermittelt werden? Und nicht zuletzt: Wie dürfen sich die Figuren in der Geschichte verhalten? Falls Mobbing und Diskriminierung dargestellt wird, muss diese gerahmt werden. Häufig wird von den diskriminierten Figuren bislang eine Resilienz verlangt: Ihr vermeintlicher Erfolg liegt darin, dass sie »stark genug« sind, um dem Mobbing zu begegnen und »trotzdem« glücklich oder stolz auf ihre »Anders­artigkeit« sind. Das ist für ein Kind, das in Kindergarten oder Schule tatsächlich solche Erfahrungen macht, eine überfordernde Botschaft.

Und welches Kinderbuch würden Sie empfehlen?

Das ist auf jeden Fall »Julian ist eine Meerjungfrau« von Jessica Love. Das mehrfach ausgezeichnete Bilderbuch ist eine wirklich gelungene Geschichte über Julian und dessen Wunsch, eine Meerjungfrau zu sein. Das Buch bietet die Lesart an, dass es sich um eine Trans-Geschichte handelt. Anders als in vielen Kinderbüchern wird das aber nicht problematisiert, im Gegenteil: Die Großmutter, bei der Julian aufwächst, hilft dem Kind dabei, sich in ein wirklich fantasievolles, schönes Gewand einer Meerjungfrau zu schmeißen. Gemeinsam gehen sie dann zu einer Drag-an­mu­tenden Straßenparade und feiern stolz und fröhlich sich selbst und die anderen Meerjungfrauen.