Micki — Eine Nacherzählung

Materialien zur Meinungsbildung

Übertreibungen, die dem ­Einzelnen seine Gefühlswege vorschreiben wollen, reizen nur zum Widerspruch.
Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg

Die literarische Form der Nacherzählung gilt als kunstlos und bloße Fingerübung für Schulkinder. Das ist ganz falsch, sie verdient mehr Aufmerksamkeit, damit wir besser darin werden. Denn trotz ihres schlechten Rufs begegnen wir der Nacherzählung in münd­licher Form überall. Immer ist das sehr ermüdend. Denn die Menschen, die diese Geschichten erzählen, spielen darin immer die Hauptrolle, meist sind es Heldengeschichten. Da fehlt mir der Pfiff im Plot. Eine Variante ist aber die Leidensgeschichte. Darin wird dem rechtschaffenen Helden übel mitgespielt, oft ist es ein Stationen­drama, bei dem kein Ende abzu­sehen ist, entsprechend lang sind die Schilderungen.

Zu den Heldengeschichten gehört, was Tobse Bongartz erzählt, der darin unentwegt von lauter Idioten umgeben ist, die seine Grandiosität nicht erkennen können, so dass man sich fragt, welche Rolle man selbst in diesem Rahmen spielt. Hingegen ist das, was Atze und Pit erzählen, die mit ihren Hunden immer vor Trinkhalle Hirmsel sitzen, ein schier endloses Lamento, das den Bogen von der Abholzung des Regenwalds im Amazonasgebiet bis zur Bierpreiserhöhung bei Trinkhalle Hirmsel spannt. Atze und Pit lassen auch anklingen, dass da Zusammenhänge bestehen.

Es ist nicht so, dass ich anderen nicht gern zuhören würde. Bloß stören mich die vielen Übertreibungen. So ähneln diese Nacherzählungen jenen Büchern, in ­denen dem Leser ein Empfinden aufgedrängt wird, anstatt es ihm selbst zu überlassen, ob er den, ­sagen wir mal, virilen Surflehrer oder einen geschäftstüchtigen Trinkhallenbetreiber nun abscheulich findet oder total nett.

Und warum werden immer Stimmen nachgeäfft? Nur weil man dumm oder böse ist, redet man doch nicht wie Mickey Maus oder als habe man ein Pfund Katzenstreu verschluckt. Und nur weil jemand geschrien hat, muss man ja nicht auch in der Nacherzählung schreien! Ich halte das nicht aus.

Ich hörte lieber Nacherzählungen, die nichts Außerordentliches schildern, sondern Alltägliches. Ich liebe das Banale. Es ist wie in einem voluminösen Roman aus alter Zeit, dessen Geschichte uns ereignislos und unbedeutend erscheint, dessen Präzision der Beschreibung von Landschaften, Menschen, Stimmungen wir aber bewundern müssen. So wünschte ich, dass man mir erzählte.

Stattdessen berichtet Gesine Stabroth ihre Partyerlebnisse. »Steh ich da bei Tine in der Küche, tippt mich jemand von hinten an, ich dreh ich mich um, na, und wer steht da?« Na, da platze ich gleich vor Spannung. Elvis Presley? Der Papst im Kettenhemd? Mickey Maus? »Nee, glaubste nicht: der Micki!« Nun gut, ich liebe, wie bereits oben erwähnt, das Banale — aber so banal muss es dann auch nicht sein. Was soll das denn jetzt werden? Ein Groschenroman? Entpuppt sich Micki gleich als Spross aus altem Adel, der nach einer Enttäuschung wahre Liebe sucht? »Braungebrannt und wirklich, also wirklich, total super nett, und hat jetzt ’ne Surfschule auf Lanzarote!« Surfschule statt Schloss, Moped unterm Popo statt eines stolzen Rosses — arme Gesine Stabroth, dachte und sagte ich. Und dann haben wir uns wieder gestritten, weil ich behauptet hatte, auf Lanzarote könne man gar nicht surfen, was für ein Hallodri denn dieser Micki sei. Und Gesine Stabroth sagte, man könne wohl auf Lanzarote surfen, und mir war es zu doof, das zu googlen, das hätte dieser Micki wohl gern. Und Gesine Stabroth sagte, sie werden es ja bald wissen, nämlich wenn sie Micki besuche, jawohl, und dann könne sie mir alles ganz genau erzählen. Ich bin dann zur Trinkhalle Hirmsel gegangen und hab mir von Pit und Atze die Welt erklären lassen und habe immer nur genickt die ganze Zeit, bis ich fast Kopfschmerzen hatte davon.