»Der ganze ägyptische Zustand«

Samir Nasr über seinen in Tunesien gedrehten Film »Sharaf« und Einschränkungen in Ägypten

Herr Nasr, ein junger arabischer Mann, Sharaf, wird nach einem Totschlag in Notwehr aufgrund seines unter Folter erpressten Geständnis inhaftiert. Worauf basiert die Geschichte ihres Films?

Auf dem Roman eines der großen arabischen Erzähler, Sonallah Ibrahim. Seit über 50 Jahren ist er ein Stachel im Fleisch mehrerer ­Regime, und war unter Nasser fünf Jahre im Gefängnis. Dieser Roman ist 1997 erschienen, in der Mitte der Ära Mubarak. Ich habe darin die perfekte erzählerische Umsetzung des ganzen ägyptischen Zustandes gesehen: Korruption, Machtmissbrauch. Aber auch die Art, mit dem Leben umzu­gehen, Widerstands-Mechanismen und Humor.

Wie konnte »Sharaf« umgesetzt werden?

Es war extrem schwierig! Ich wollte einen ägyptischen Film machen, als große Produktion mit vielen Stars. Wir stellten dann fest, dass die Produzenten große Angst haben. Während des arabischen Frühlings dachten wir: »Jetzt verändern sich die Dinge«, waren aber 2011 on hold, weil wir keinen Film über die Vergangenheit machen wollten. Spätestens 2014, nachdem das Militär die Macht komplett übernommen hatte, wurde klar, dass die Zustände, die wir in »Sharaf« beschreiben, sich keinesfalls gebessert haben. Als wir 2019 die Zensur­freigabe nicht bekamen, sagten wir: »Okay, dann drehen wir in Tunesien.«

Welche Entwicklung durchläuft die Hauptfigur?

Sharaf ist ein naiver Held, auch stellvertretend für Millionen Menschen nicht nur der arabischen Welt — junge Menschen, die sich wahrscheinlich bewusst der Realität ihrer Gesellschaft verweigern, in einer virtuellen Welt leben. Und dieser Luxus wird ihm in dem Moment genommen, in dem er mit der realen Welt des Gefängnisses konfrontiert ist. Unsere Sympathie gehört diesem Antihelden, diesem jungen Tor, wir können ihn nicht verurteilen. Und die Frage war immer: Wie entscheidet er sich? Unter Druck und vielleicht auch, weil er keinen moralischen Kompass hat.

Wie teilen Sie ihre Zeit zwischen Ägypten und Deutschland auf — als Filmemacher und privat?

Lange Zeit habe ich mindestens drei Viertel des Jahres in Deutschland verbracht. Der arabische Frühling war für mich eine Wende, mit großen Hoffnungen verbunden. Und ab 2011 bis 2014 habe ich — weil ich Teil dieser Entwicklung sein wollte —, fast die Hälfte des Jahres in Kairo verbracht. Das hat sich jetzt verändert, durch Corona, aber auch weil die Entwicklung in Ägypten, gerade was Kunst und Kultur betrifft, absolut einengend und erstickend ist.

Der arabische Frühling hatte zu einem hoffnungsfrohen kulturellen Aufblühen geführt, gefolgt von tiefer Depression. Hat sich das etwas stabilisiert?

Wir haben eine Verstaatlichung, man kann auch sagen: Militarisierung der Filmproduktion , der Kultur generell. Man produziert zwar teure Filme, auch Blockbuster, die aber nichts mit der Realität des Landes zu tun haben. Filme, die kritisch sind, politisch, gesellschaft­lich relevant... sind fast komplett aus den Kinos verschwunden, weil sie nicht mehr produziert werden. »Sharaf«, von dem man vor 2016 noch dachte, man kann ihn in Ägypten drehen, muss drei Jahre später in Tunesien gedreht werden. Der ägyptische Staat übte immer noch massiven Druck auf die Schauspieler*innen aus. Sodass wir im Laufe der Vorbereitung fast alle ägyptischen Schauspieler*innen verloren haben.

Hat das auch das Konzept des Films beeinflusst?

In »Sharaf« haben wir jetzt Schauspieler*innen aus sieben Ländern, die alle ihren arabischen Dialekt sprechen: Syrisch, Ägyptisch, Palästinensisch, Tunesisch… Wir erklären das nicht. Damit hat dieses Gefängnis im Film etwas Künstliches, Parabelhaftes, Universelles: Es ist jetzt kein Film mehr über ein einzelnes Land, sondern über das große Gefängnis »Arabische Welt«. Und egal, ob bei der Weltpremiere auf dem Red Sea Festival oder auf dem Filmfestival von Khartago: Das arabische Publikum ist von diesem Film tief berührt. Wir haben Szenen-Applaus erlebt, weil die Leute eben genau gespürt haben, was wir erzählen wollten und sich darin wiederfinden.

Hat »Sharaf« eine Chance, in ab­seh­barer Zeit in Ägypten gezeigt zu werden?

Nein. Wir haben ihn gar nicht beim Kairo Film Festival eingereicht. Das muss man den Verantwortlichen auch nicht zumuten. Aber er wird online bei Streamingdiensten laufen und sein Publikum finden, auch in der arabischen Welt.

Samir Nasr wurde 1968 als Sohn eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter in Karlsruhe geboren. Ägypten hat er nach seinem Abitur an einer deutschen Schule in Kairo ­verlassen. Er lebt in Berlin. »Sharaf«, D/EG/TUN/LUX 2019, R: Samir Nasr, D: Ahmed Al Munirawi, Fadi Abi Samra, Khaled Houissa, 91 Min.