»Der Mensch ist ein anderer« am Staatstheater Wiesbaden © Christine Tritschler

Deep Learning auf Augenhöhe

Längst schreibt Künstliche Intelligenz Texte und Spielanweisungen für das Theater. Ist das überhaupt »echte«, legitime Kunst?

Als gegen Ende des letzten Jahres »ChatGPT« durch das Internet geisterte, ein hochentwickelter Chatbot des amerikanischen Unternehmens OpenAI, regte sich allgemeine Verblüffung über die Fertigkeiten von Künstlicher Intelligenz — wieder einmal. Das Thema erweckt zuverlässig Faszination wie Furcht und scheint in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals von einer polarisierenden Ambivalenz: Unbegrenzte Möglichkeiten und immense Erleichterungen auf der einen Seite, Unsicherheit, Gefahr und Kontrollverlust auf der anderen.

Künstliche Intelligenz (KI) ist schon längst Teil aller möglichen Sphären unseres Lebens, mal mehr, mal weniger sichtbar. Auch die Welt des Theaters hat den Nutzen von Digitalisierung und KI erkannt und sich für Produktionen zu eigen gemacht. Die Idee, eine KI in den kreativen Prozess eines The­aterstücks mit einzubinden, klingt zunächst einmal abstrakt. Wie kann das aussehen?

Erfahrungen mit künstlicher Intelligenz im Theaterkontext gibt es bereits einige: Am Theater Bremen schrieb die KI »GPT-3«, die befähigt ist, eigenständig Texte zu verfassen und Dialoge zu führen, die komplette Handlung für das Stück »Verfall. Ein Picknick im Grünen«. Ebenfalls auf »GPT-3« verließ sich das Kollektiv CyberRäuber am Staatstheater Wiesbaden für »Der Mensch ist ein anderer«, in dem die Schauspieler*innen KI-generierte Texte und Spielanweisungen live per Kopfhörer empfingen und diese spontan performten. Auch Visuals, Licht und Musik wurden von der KI auf Basis der Texte entworfen.

Den Produktionen ist gemein, dass die Künstliche Intelligenz nicht, oder zumindest nicht nur, Unterstützung bei der Umsetzung bietet, sondern eine Stellung als künstlerisch gleichberechtigter Mitspieler hat. Die Fragen, die angesichts dieser neuartigen Kooperationspartnerschaften laut werden, sind oftmals dieselben: Ist das überhaupt »echte«, legitime Kunst? Kann man diese Stücke unter den Oberbegriff von Kreativität subsumieren? Werden KI und Roboter in Kürze die Weltherrschaft an sich reißen?

Martina Leeker hat diese Fragen schon oft gehört. Sie ist Theater- und Medienwissenschaftlerin, Theatermacherin und Pädagogin und forscht unter anderem zu Performativität und Digitalität. Schon in den 90er Jahren hat sie sich im Zuge ihrer Dissertation mit der Frage beschäftigt, wie Theater und Technologie zusammenspielen. »Digitalität im Theater gibt es nicht erst seit gestern. In den 60er Jahren haben Theaterschaffende bereits mit Ingenieur*innen aus der Kommunikationstechnologie zusammengearbeitet. Schon damals gab es erste Versuche, Computerprogramme zu schreiben, die Kunst generieren oder im Bereich Performance und Tanz den Körper zu nutzen, um digitale Elemente zu steuern.«

Laut Martina Leeker habe in den 60ern die technische Umstellung von Einzelmedien auf Systeme, wie zum Beispiel in Krankenhäusern oder im Militär, den Wandel hin zu einer techno-humanen Kooperation bewirkt, in der dem Mensch eine neue Rolle als Teil ­eines Systems zugewiesen wurde, nicht mehr als alleiniger Operator. »Hier haben Theater und Performance diese Entwicklung direkt abgefangen, um neue kreative Freiräume zu erschließen und Kunst entstehen zu lassen.«

Das Modell, in dem die KI als gleichwertiger Akteur fungiert und welche Potentiale sie entfesselt, ist Leekers Meinung nach sehr viel sinnvoller als die ängst­liche Frage danach, ob die Maschine den Menschen irgendwann

ersetzt oder zu ihrer Marionette macht. »Die Kreativität gibt es schon mal gar nicht«, wirft sie auf die Frage nach der kreativen Legitimität ein. »Dieser Begriff hat sich historisch immer extrem gewandelt und wird auch von verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen anders aufgefasst. Wir leben jetzt schon mit den neuen technischen Bedingungen. Das stößt die Fragen an, welche Verantwortlichkeit es gibt, wie viel Handlungsmacht hat der Mensch, wie viel die Maschine. Und auch: wenn es mir etwas bringt, ist es dann nicht egal, ob etwa ein Roman von einer Maschine oder von einem Menschen geschrieben wird?«

Nach all den theoretischen Impulsen liegt es nahe, eine dieser Optionen kreativer digitaler Textgenerierung auszuprobieren. Das führt uns zu Eloquentron3000, eine Gedichte schreibende KI mit Hang zu Melodramatik — wenn man es wünscht. Die Bedienung ist denkbar simpel: Man gibt auf der Website einen Namen ein, wählt die Zeilenanzahl des gewünschten Gedichts und ein Genre. Ich entscheide mich für vier Zeilen und das Genre LOVESICKNESS und klicke auf »Generieren«. Sogleich erscheint das erste ­Gedicht auf dem Bildschirm:

dein magnolienrot liegt noch bei mir
tränen füllen die flüsse
warum bist du fort luca?
alle grenzen zerfallen zu asche

Schön und herzzerreißend — geschrieben von einer Maschine, von der sich ambitionierte Nachwuchsdichter*innen vielleicht ­etwas abgucken können. Schöpfer dieses Lyrik-Bots ist Fabian Navarro. Er ist Autor, Slam Poet und ­Programmierer. Als er vor einigen Jahren auf einen Artikel über ein neuronales Netzwerk stieß, das von Google darauf trainiert wurde, anrührende Groschenromane zu verfassen, war er fasziniert von der emotionalen Wirkung, die diese maschinell erstellten Texte ausübten und entwickelte kurzerhand selbst einen Textgenerator: Eloquentron3000. Seitdem begleitet textgenerierende KI sein kreatives Schaffen: »Mich begeistert, dass Texte auf völlig neue Weise entstehen, nämlich nicht mehr, weil ich einen Stift zur Hand nehme oder auf der Tastatur tippe, sondern weil ich ein Programm geschrieben habe, das basierend auf meiner Augenfarbe ein Gedicht verfasst«, erzählt Navarro. Doch er rät zur Vorsicht: Bezüglich der eingangs erwähnten ChatGPT müsse man beobachten, welche Firmen hinter diesen KIs stehen, wie sie eingesetzt werden und welche Interessen damit verfolgt werden.

»Es stellt sich auch die Urheberfrage, wenn zum Beispiel ein bestimmter künstlerischer Stil gezielt kopiert wird. In beiden Fällen ist es dringend notwendig, dass man dafür eine Gesetzgebung schafft. Die ist aktuell noch nicht besonders ausgebaut. Weil die Entwicklung auf diesem Gebiet aber so rasend schnell verläuft und gefühlt jeden Tag etwas ­Neues passiert, ist es aber auch schwer, sich einen Überblick zu verschaffen«, meint Navarro. Wenn man eines aus dem vorangegangenen Text ziehen kann, dann, dass das Thema fürwahr ein philosophisches ist, eines das zu Reflexionen über die vielen Schnittstellen von Technik, Mensch und Kultur anregt.

Zumindest wird klar: Das alles ist nicht länger Zukunft, sondern bereits Gegenwart. Und es rückt mit vielen offenen Fragen an uns heran.