Verwaltung des Mangels

Köln war lange Vorreiter beim »Gemeinsamen Lernen«. Doch nun stagnieren die Zahlen, es fehlen Personal und Räume — und Köln plant sogar den Bau von zwei neuen Förderschulen. Droht die Inklusion am Schulnotstand zu ­scheitern? Und warum wird immer mehr Kindern ein Förderbedarf attestiert? Teil 4 unserer Serie zur Schulmisere in Köln

Max Paustian kommt aus Niehl und geht in die vierte Klasse. Er ist ein Kind mit Down-Syndrom und besucht eine Grundschule in der Nachbarschaft, wo er gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung unterrichtet wird.  Seine Familie wünscht sich, dass es  für Max mit dem Gemeinsamen Lernen in der fünften Klasse weitergeht. Doch nun kam Post von der Stadt Köln. Max soll künftig auf die Max-Ernst-Gesamtschule in Bocklemünd gehen, zehn Kilometer vom Wohnort entfernt. »Max müsste mit der KVB fahren, einmal umsteigen und 54 Minuten pro Richtung fahren«, sagt seine Mutter. Wie ein Kind mit Down-­Syndrom das schaffen soll, stand nicht in dem Brief.

Isabell Paustian und ihr Mann sind berufstätig, eigent­lich wollten sie ihr Auto abschaffen. Nun müssen sie sich darauf einstellen, ihr Kind mehrere Stunden täglich durch die Stadt zu chauffieren, für sieben Jahre oder ­länger. Ihre Arbeitszeit müssten sie reduzieren. Ginge Max auf eine Förderschule, gäbe es wohl recht gute Aussichten auf einen Fahrservice, sagt Isabell Paustian: ­»Verständlich, wenn Eltern sich aus der Not doch für eine ­Förderschule entscheiden.«

Köln war Vorreiter bei der Inklusion. Vier Jahre bevor es in NRW für Kinder mit Förderbedarf das Recht gab, zwischen Regel- und Förderschule zu wählen, wurde hier  die »Klaglosstellung« eingeführt. Die betroffenen ­Eltern konnten ihre Kinder auf Regelschulen anmelden, ohne dies einzuklagen. Im Inklusionsplan von 2012 bekannte sich Köln dazu, bis 2020 achtzig Prozent der Kinder mit Förderbedarf im Gemeinsamen Lernen zu unterrichten.

Tatsächlich stieg die Inklusionsquote von 20 Prozent im Schuljahr 2011/12 auf aktuell 55 Prozent. Doch seit 2017 trat die schwarz-gelbe Landesregierung auf die Bremse — und die Inklusion stagniert nun auch in Köln. Eine Stadtsprecherin sagt: »Das 80-Prozent-Ziel wurde bewusst nicht fortgeführt, weil der kommunale Einfluss auf diese Kennzahl sehr begrenzt ist.«

Gleichzeitig wird immer mehr Kindern ein Förderbedarf attestiert: Waren es 2005/2006 noch rund 5600 Kinder, sind es heute mehr als 8200 — fast jeder zehnte Schüler der Klassen 1 bis 10. Der Anstieg zeigt sich vor allem bei geistiger Entwicklung, Lernen und Sprache. Bei körperlichen oder Sehbehinderungen blieben die Quoten gleich. Versehen Schulen etwa Kinder mit Etiketten, um mehr Personal zu bekommen? Falls ja: Stigmatisiert man damit die Kinder oder erhöht man ihre Bildungschancen, weil sie gefördert werden? Eine Studie im Auftrag der Landesregierung soll das nun klären. Auch sieht der Koalitionsvertrag von CDU und Grünen vor, das Verfahren zur Prüfung sonderpädagogischen Förderbedarfs zu überarbeiten.

An manchen Kölner Förderschulen wird es wieder enger, weil an den Regelschulen die Plätze für die Förderkinder nicht ausreichen. Die Stadt will sogar zwei neue Förderschulen bauen. Dies dürfe man nicht als Abkehr von der Inklusion verstehen, heißt es im Schuldezernat. Man trage bloß dem Elternwillen Rechnung und stelle fest, dass es einen Bedarf an zusätzlichen Förderschulplätzen gebe.

Das sieht Eva-Maria Thoms vom Verein Mittendrin, Träger zahlreicher Inklusionsprojekte, ganz anders: »Die Stadt redet sich das schön und verletzt die Rechte der Kinder und Familien!« Wie bei Max Paustian sei der erschwerte Schulweg an Schulen des Gemeinsamen ­Lernen ein großes Problem und ein Grund, dass Eltern ihre Kinder an Förderschulen anmelden. Thoms fordert wohnortnahe inklusive Schulen oder zumindest einen verbindlichen Transport samt Kostenübernahme. »Das wäre ein Beitrag, um den Bau neuer Förderschulen zu vermeiden.« Bei der Stadt versichert man zwar, dass man bei der Bewilligung des »Schülerspezialverkehrs« nicht zwischen Regel- und ­Förderschule unterscheide. Jedoch gebe es eine »relativ hohe Anzahl beförderter Schüler und Schülerinnen an Förderschulen«, da diese häufig weit vom Wohnort entfernt seien.

Fast jedem zehnten Kölner Schüler der Klassen 1 bis 10 wird ein ­Förder­bedarf ­attestiert

Dass der Förderbedarf für geistige Entwicklung in Köln seit dem Schuljahr 2005/06 um fast 60 Prozent gestiegen ist, führt Thoms auf fehlerhafte Einschätzungen zurück. So werde bei Kindern mit Migrationshintergrund deutlich häufiger eine geistige Behinderung festgestellt. »Dabei kommen geistige Behinderungen in allen Bevölkerungspopulationen mit gleicher Wahrscheinlichkeit vor.« Die meisten Förderbedarfe werden in der Grundschule festgestellt, wo ein Sonderpädagoge ein Gutachten schreibt, das häufig durch IQ-Tests abgesichert wird. »Wenn Kinder nervös sind, die Fragen nicht verstehen, Sprachbarrieren haben, kann das zu einem völlig verfälschten Ergebnis führen«, so Thoms. Der Förderbescheid für geistige Entwicklung hat lebenslange Folgen für die Kinder: Lerninhalte werden stark reduziert, die Kinder machen keinen Abschluss. »Sie landen von der Schule direkt in der Behindertenwerkstatt oder im staatlichen Unterstützungssystem«, sagt Thoms.

»Die Planung neuer Förderschulen ist keine Abstimmung mit den Füßen, sondern eine Kapitulationserklärung«, sagt auch Heiner Kockerbeck, Sprecher der Linken im Stadtrat. Es dürfe nicht sein, dass Eltern ihre Kinder zur Förderschule schickten, weil sie Angst haben, dass diese an der Regelschule untergehen. Das trage auch zur sozialen Spaltung bei, weil Förderschulen überdurchschnittlich häufig von Kindern aus armen Elternhäusern besucht werden. Objektive Kriterien für einen Förderbedarf fehlten. »Es ist doch klar, dass der Förderstatus für die Schulen ein Rettungsanker ist.« Deshalb sei gut, dass die Landesregierung das Verfahren nun überprüfe, so ­Kockerbeck.

Auf dem Schulhof der Katholischen Hauptschule am Rhein im Kunibertsviertel herrscht Pausenbetrieb. Kinder stehen zusammen oder spielen Fußball, zwei Mädchen weisen freundlich den Weg zum Direktorenzimmer. Dort empfangen Leiterin Marika Prandl-May und Lehrerin Pia Pawlowski zum Gespräch. Wie die Anfänge der ­Inklusion an ihrer Schule waren? »Schlecht«, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Da wurde entschieden, dass wir Inklusion machen, ohne dass wir genügend Unterstützung bekommen hätten«, so Pia Pawlowski. »Wir wussten nicht, was wir mit diesen Kindern machen sollten. Da braucht es ja eine andere Herangehensweise.« Anfangs seien Sonderpädagogen für je ein Jahr abgeordnet worden — eine Person für die gesamte Schule. Inzwischen haben von 310 Schülern etwa 50 einen Förderbedarf, vor allem beim Lernen und der emotional-sozialen Entwicklung. Und die Einstellung zur Inklusion hat sich komplett gedreht: »Ich arbeite sehr gerne mit ­Förderkindern — es ist so schön zu sehen, wie sie sich ­weiterentwickeln«, sagt Pawlowski. Ob ein Kind einen ­Förderbedarf hat,  spiele in der Klasse kaum eine Rolle. Förderschüler seien auch nicht in jedem Fach schwächer. »Wir haben einen Schüler mit Förderbedarf Lernen, der sitzt bei uns im Englisch-Realschulkurs. An der Förderschule wäre das nicht möglich.« Von der Inklusion profitierten auch die anderen Kinder. »Wir haben ein sehr ­gutes soziales Miteinander. Die Kinder akzeptieren, dass jeder andere Stärken und Schwächen hat.«

Pawlowski hat sich zur Sonderpädagogin weiterbilden lassen, andere Kollegen ebenfalls. Inzwischen arbeiten sieben Sonderpädagogen an der Schule, einer für jede Stufe. »Damit sind wir in Köln im Vergleich sehr gut aufgestellt«, sagt Schulleiterin Marika Prandl-May. Maximal 20 Kinder lernen in den inklusiven Klassen, in den anderen sind es höchstens 25. Hauptschulen sind unbeliebt bei Eltern, es gibt nur wenige Anmeldungen. Für die Inklusion ist anscheinend gerade das ein Vorteil. »Mit den Kollegen an der Gesamtschule und ihren Klassengrößen möchte ich nicht tauschen«, sagt Pia Pawlowski.

Viele kommen mit dem Förderbedarf Lernen zu uns, obwohl sie eigentlich ein sprachliches ­Problem haben
Martin Süsterhenn, Katharina-Henoth-Gesamtschule

Auch an der Hauptschule am Rhein stellen die Lehrer häufig Anträge auf sonderpädagogische Förderung, im Schnitt etwa fünf pro Jahr. An mangelndem Personal liege das aber nicht. »Wir sind sensibler geworden und erkennen Förderbedarfe leichter als früher«, sagt Leiterin Prandl-May. Sie sagt, die Defizite nähmen tatsächlich zu. So gebe es etwa mehr Schüler, die durch Flucht jahrelang keine Schule besucht hätten. »Das ist ganz schwer aufzuholen«, so Prandl-May. Auch der »viel zu hohe Medienkonsum« trage dazu bei.

Martin Süsterhenn kommt gerade aus der »Verteilerkonferenz« für die Gesamtschulen, in der die Plätze des Gemeinsamen Lernens vergeben werden. Er leitet die Katharina-Henoth-Gesamtschule in Höhenberg, wo sich dieses Jahr 48 Kinder für das Gemeinsame Lernen angemeldet haben — es gibt dort aber nur 18 Plätze. Wegen des großen Bedarfs hat Süsterhenn dieses Jahr freiwillig auf 20 erhöht. »Am liebsten würde ich alle aufnehmen. Es ist das Beste, was es für die Kinder gibt.« Im Umfeld der Gesamtschule sei die Zahl der Kinder mit attestiertem Förderbedarf stark angestiegen. »Das hat sozialräumliche ­Bezüge.« Vor ­Süsterhenn liegt die Liste der 28 abgelehnten Kinder aus seinem Einzugsgebiet, deren Familien er heute noch kontaktieren muss, um sie an andere Schulen zu vermitteln: An der Gesamtschule Rodenkirchen wurden nur 8 von 24 Plätzen im Gemeinsamen Lernen belegt, an der Gesamtschule Lindenthal sind noch sechs frei.

Die meisten Kinder mit Förderbedarf an der Katharina-Henoth-Gesamtschule sind sogenannte LES-Kinder mit Schwächen bei Lernen, Sprache oder emotionaler und sozialer Entwicklung. »Viele kommen mit dem Stempel Förderbedarf Lernen zu uns, obwohl sie eigentlich ein sprachliches Problem haben«, so Süsterhenn. Ende der achten Klasse würden einige Förderbedarfe wieder aufgehoben. Knapp 90 Prozent seiner Schüler wachsen mit Deutsch als Zweit- oder Drittsprache auf, mehr als zwei Drittel der Familien beziehen staatliche Leistungen. »Sie sind in keiner Sprache wirklich beheimatet. Die Kinder werden schnell in falsche Schubladen gesteckt.« Die Eltern hätten »nach drei Mini-Jobs keine Zeit und Kraft, den Kindern abends vorzulesen«. Süsterhenn fordert einen schärferen Sozialindex, um Schulen in einem Umfeld wie Höhenberg gezielter unterstützen zu können. »Eine Klasse bei uns müsste 18 Kinder haben und in Lindenthal 32. Das wäre gerecht.« Neben kleineren Klassen und mehr Personal fordert Süsterhenn, Gymnasien stärker in die ­Inklusion einzubinden.

Das Albertus-Magnus-Gymnasium in Neuehrenfeld ist ­eines von nur zwei Gymnasien in Köln mit inklusiven Plätzen, im Sommer soll ein drittes folgen. Vor zehn Jahren gab es noch fünf. »Wir waren auf einem guten Weg. Dann kam der Cut«, sagt Schulleiterin Antje Schmidt, die 2018 die Leitung übernahm. Kurz darauf verabschiedete die damalige Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) ­einen Erlass, dass Gymnasien Kinder mit Förderbedarf nur aufnehmen sollen, wenn sie »zielgleich« unterrichtet werden, also denselben Abschluss anstreben wie alle ­anderen. Dieses Schuljahr ist das Albertus-Magnus-­Gymnasium wegen des erhöhten Bedarfs an Plätzen im Gemeinsamen Lernen wieder in die Inklusion eingestiegen. »Zielgleiche Inklusion ist kein gemeinsames Lernen.

Wer zielgleich lernt, wird im ganz normalen Verfahren wie alle anderen Schülerinnen und Schüler auch aufgenommen«, sagt Schulleiterin Schmidt. Der Kölner Inklusionsplan von 2012 sah vor, Inklusion in allen Schulformen zu verankern. Doch heute leisten Gesamt-, Haupt- und Realschulen die Inklusion fast allein — obwohl etwa die Hälfte aller Schüler ein Gymnasium ­besucht. »Ohne die Gymnasien ist Inklusion auf Dauer nicht denkbar«, sagt Sven Trapp,  Inklusionsbeauftragter am Albertus-Magnus-Gymnasium. Dabei lohne sich ­Inklusion für alle. »Das klassisch gymnasiale Denken hat sich durch Inklusion verändert: Wir überlegen jetzt bei jedem Kind, wie es sein Potenzial bestmöglich ausschöpfen kann.« Derzeit lernen am Albertus-Magnus-Gymnasium 33 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, bald will die Schule auch Kinder mit Förderbedarf Lernen aufnehmen. »Viele denken, Förderbedarf Lernen und Gymnasium passten nicht zusammen, doch das stimmt nicht«, sagt Trapp. Nach Möglichkeit arbeiten Lehrkräfte am gleichen Thema, lassen sie denselben ­Jugendroman lesen — mit den Inklusionskindern in einfacher Sprache und mit anderen Fragestellungen. »Der gute Wille und die Aufgeschlossenheit der Lehrer allein reichen aber nicht«, sagt Schmidt. Es brauche verlässliche Ressourcen.

Man kann keine Inklusion machen, wenn nicht einmal der Regelbetrieb ordentlich ­funktioniertStefanie Ruffen, FDP

Doch in Köln ist der Mangel auch an Regel-Schulplätzen immens und wird sich in den kommenden Jahren verschärfen. »Man kann keine Inklusion machen, wenn nicht einmal der Regelbetrieb ordentlich funktioniert«, sagt Stefanie Ruffen von der FDP. »Es wird immer auf den Gymnasien rumgehackt, dass sie keine Inklusion machen. Aber die haben bis zu 33 Schüler pro Klasse.

Wo soll da noch ein möglicher Schulbegleiter sitzen?« Die Stadt müsse beim Schulbau endlich Tempo machen und die Schulen so herrichten, dass inklusiver Unterricht möglich sei. »Wir können die Förderschulen nicht abschaffen, solange die Bedingungen für Inklusion an Regelschulen nicht gegeben sind. Was wir den Kindern mit Behinderung dort bieten können, ist leider einfach nur schlecht.«

Eine Stoßrichtung bei der Inklusion ist bei der schwarz­grünen Landesregierung noch nicht zu erkennen. Entschlossen klingt man auch beim Kölner Schuldezernat nicht. Man wolle an neuen Gymnasien und Gesamtschulen »nach Möglichkeit die Voraussetzung dafür schaffen, dass dort gemeinsames Lernen umgesetzt werden kann«, so eine Stadtsprecherin. Jedoch müssten an Schulen des Gemeinsamen Lernens die Klassenstärke reduziert werden. »Daher wird die Einrichtung von Gemeinsamem Lernen an weiteren Gymnasien in Abwägung mit Blick auch auf die knappen Schulplatzkapazitäten erfolgen müssen.« Eva Thoms von Mittendrin glaubt nicht, dass der Wandel so voran kommt. Die Stadt müsse die Inklusion wieder deutlich zu ihrem politischen Ziel erklären. »An der jetzigen Entwicklung sieht man, wie wichtig die Haltung von ganz oben ist, und was sie auch kaputt machen kann.«