Hinter Rhythmen verschwinden: Ramesh Shotham

Am musikalischen Umschlagplatz der Welt

Ramesh Shotham denkt, lebt, atmet Rhythmen

Südstadt. Römerpark Cafehaus am Eierplätzchen. Stürmisch ist es heute und weniger los als sonst. Nur ein paar wenige Mütter schieben verstohlen ihre Kinderwägen über die Teutoburger Straße. Ein paar Stücke Pappmaché werden über den Gehweg gescheucht. An einem Fensterplatz im Café sitzt er. Sein Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Noch schüchtern. Eine Apfelschorle steht vor ihm. Im Hintergrund läuft »Being Good Isn’t Good Enough« von Barbra Streisand. Dann winkt und lächelt er mir zu. Ramesh Shotham. Gut fühlt sich das an. Sofort.

Ramesh füllt den Raum aus. Aber nicht gezwungen. Nicht gekonnt einstudiert. Eher behutsam. Feinfühlig. Das ist eine Bürde. Denn: Verstecken kann er sich nicht. Die Rechnung übernimmt er. Da gibt es nichts zu diskutieren. Das Fotoshooting ein paar ­Minuten später dauert nicht lange. Sowas ist er gewohnt. Schließlich kennt er das Musikbusiness mittlerweile länger als ein halbes Jahrhundert. Ramesh, der alte Schlagzeug-Hase, stand schon mit vielen namhaften Größen der globalen Jazz-Szene zusammen auf der Bühne: Steve Coleman, Steve Swallow oder Charlie Mariano sind nur drei von ihnen. Sich etwas darauf einbilden könnte er. Zumindest ein bisschen. Aber: Pustekuchen. »Komm, ich zeige dir meinen Proberaum. Das ist doch ein Schietwetter heute«, sagt er stattdessen.

Furchtbar feucht riecht es im Keller des Altbaus. Irgendwann muss wohl jemand da unten einen roten Totenkopf an die Wand ­gemalt haben. Unter dem steht »Danger«. An der Eingangstür des Proberaums hängt ein Plakat mit dem Titel »Here It Is!«. So heißt Rameshs letztes Album, das er 2018 im Rahmen seines wohl ­bekanntesten musikalischen Projektes »Madras Special« veröffentlicht hat. Und auf einmal stehen wir mittendrin in dem Raum, in dem sich einer der gefragtesten Perkussionisten Europas seit über ­25 ­Jahren Gedanken macht — ­unter anderem — über 4er und 5er Rhythmen, und wie man die nicht nur miteinander verknüpfen, sondern darüber hinaus in eine Art rhythmische Symbiose bringen kann. Wichtig in der südindischen Musik sei es, stets in Zyklen zu denken, beginnt Ramesh zu philosophieren. Mathematik sei dafür natürlich die Basis von allem, fällt ihm noch ein. Seine Augen funkeln. Das ist sein Leben, daran hängt sein Herz, merkt man. ­Sofort.

Der kleine Sessel in der hinteren Ecke seines kleines Reichs ist saugemütlich. Da ist er wieder, dieser Wohlfühl-Moment. Ramesh wirkt etwas aufgeregt. Er sucht eine frische Flasche Wasser, dann noch ein gespültes Glas. Sein erstes Interview ist das nicht. Beileibe nicht. »Danke, das ist sehr liebenswürdig, Ramesh. Nimm ­ruhig Platz«, fällt mir in dem Moment spontan ein. Als er schließlich sitzt, beginnt er zu erzählen. Ihm Fragen stellen: Das kann man machen. Wirklich notwendig ist es jedoch nicht. Ihm zuhören: Das sollte man wollen. Dann läuft es wie von selbst.

Den Terminus ­einer glücklichen Kindheit, Ramesh verwendet ihn nicht, wenn er über seine stark katholisch und protestantisch ­geprägte Schulzeit spricht, wenn er von den Priestern redet, die ihm viel von der christlich-musikalischen Tradition mit auf seinen Weg gegeben haben. Oder wenn er mit einem schälmischen Grinsen im Gesicht von den ersten Bandproben zusammen mit seinem Bruder im heimischen Wohnzimmer berichtet. Das alles sei damals Mitte der 60er Jahre in Chennai, seiner Geburtsstadt an der Ostküste Südindiens, sozusagen interreligiös und interkulturell wie Kraut und Rüben zusammengemischt worden, und irgendwie auch zusammen­ge­wachsen, lacht er. So richtig glauben kann man das nicht. Hier. In der Südstadt. Im Jahre 2023. Ramesh erzählt auch, dass Frauen in Indien am hellichten Tag zu Tode vergewaltigt werden. Dann wird es still zwischen Thavil und Ghatam.

Er verschwindet ­förmlich im Rhythmus, in den damit ver­bundenen Silben und Zahlensystemen

Thavil und Ghatam: Das eine ist eine ­spezielle Doppelfell-­Trommel, das andere eine sogenannte Ton-­Trommel. Mit beiden können diese typisch südindischen Rhythmusklänge erzeugt werden. Wir springen wieder zu seiner Biographie:  ­Liberal — seine Eltern, die seien es gewesen. Liberal. Und weltoffen. Nur deshalb konnte damals der Rock’n’Roll ­namens Human Bondage — so hieß seine erste Band —  Einzug in sein Wohnzimmer halten. Nur deshalb konnte eine ganze Generation junger, musikverrückter ­Inder beginnen, nach Bombay, das heutige Mumbai, zu pilgern, um die amerikanischen und europäischen Hippies begrüßen und mit ihnen das Leben, die Freiheit und die Musik feiern zu können. Bombay, die 15 Millionen Einwohner-Metropole an der indischen Westküste, sei früher der kulturelle Schmelztiegel, schlechthin der musikalische Umschlagplatz der halben Welt gewesen. Rameshs Augen funkeln jetzt wieder. ­Bestimmt, weil er es in diesem Moment wieder vor sich sieht: die Straßen und die Clubs von Bombay, und nicht zuletzt auch seine Lebensidee, sein Schicksal, seine ganz persönliche Zukunft. »Und auf einmal wusste ich, dass ich meine eigene kulturell-musikalische Identität mit den Beats des Westens vereinen wollte«, sagt er dann plötzlich. Was er damit meint, wird klar, wenn man ­einen Schritt zurücktritt und das große Ganze seines Schaffens betrachtet. In Bombay verzahnten sich die Künste, Kulturen und ­unterschiedlichen Philosophien in- und miteinander. Für Ramesh sei diese Verzahnung allerdings nichts Kurzlebiges, keine oberflächliche Affäre gewesen. Er habe sich in diese weltumspannende musikalische Umarmung so richtig verknallt. Und mit genau diesem Gefühl, gleichermaßen verliebt in die Rhythmen Südindiens und des Rock, Pop und Jazz, sei er schließlich zu Beginn der 80er Jahre nach Europa gekommen. Ramesh gerät ins Schwärmen.

Apropos Schwärmerei und weltumspannende Umarmung: Während also sein Bruder in dieser Zeit den zweiten Melting Pot am anderen Ende der Welt aufsuchte und in New York City Gitarre spielte, trommelte Ramesh in: Menden, ja, Menden an der Hönne im Sauerland, und begegnete dort das erste Mal seiner Frau Alexandra. Liebe auf den ersten Blick sei das gewesen, sprudelt es aus ihm heraus. Für sie, so verrät er, hätten die Klänge Indiens schon immer eine magische Anziehung gehabt. Vorstellen kann man es sich nur schwer, wie die beiden im tiefsten Sauerland zueinander gefunden haben sollen. Das weiß auch Ramesh und lacht. Diesmal so richtig, aus tiefstem Herzen. Und diesmal funkeln seine Augen nicht. Sie ­tränen vor Freude. Was für eine Geschichte: Der Junge aus Chennai findet in der Hönnestadt seine große Liebe. Es ging nach Köln. Gelebt haben sie zunächst in ­Ehrenfeld, später dann haben sie sich jedoch immer öfter in der Südstadt aufgehalten und sich ­irgendwann in sie verguckt. »Dank meiner Tätigkeit bin ich schon an fast allen Orten der Welt gewesen« — dann hält Ramesh kurz inne –, aber hier am Eierplätzchen fühle er und seine Familie sich einfach am wohlsten. Ob er sich denn mit fast 75 Jahren bei all den positiven Wendungen in seinem Leben als Glückskind bezeichnen würde, frage ich ihn frei heraus. Seine Antwort korrigiert gleichzeitig meine Fragestellung: »Ich bin sauglücklich.«

Am Ende unserer Begegnung kommt Ramesh noch einmal auf die Mathematik seiner Arbeit zu sprechen. Das macht er ungefähr so: »Ta-Ka-Di-Mi« und »Da-Di-Gi-Na-Dum”. Diese Laute schnalzt er. Mit dieser Silbensprache wachse jedes indische Kind auf, »Konnakol ist das!«, ruft Ramesh mir zu, während er sich sein Thavil schnappt und sich damit hinter sein kleines Drumset setzt. Ein kurzes In-Sich-Gehen, noch ein oder zwei Sätze zu der schon ­vorhin erwähnten 4er- und 5er-Rhythmus-Geschichte, und dann, ja, dann verschwindet er. Anders kann man es nicht beschreiben.

Er verschwindet förmlich im Rhythmus, in den damit verbundenen Silben und Zahlensystemen. Seine Hände und Beine scheinen bei all dem nur Ausführungs-Apparate zu sein, die, wie an dünnen ­Fäden hängend, ausschließlich ­einer nicht sichtbaren und erst recht nicht hörbaren rhythmischen Macht folgen.

»Ta-Ka-Di-Mi-Ta-Ka-Ju-Na«, flüstert er. Abrupt beendet Ramesh seine Privatvorführung und spricht, als sei nichts geschehen, von der absoluten Grenzenlosigkeit rhythmisch-mathematischer Möglichkeiten. Auf jeden Fall, ­verabschiedet er mich, gäbe es da noch viel zu entdecken. Being Good Isn’t Good Enough. Vielen ­lieben Dank, Ramesh.

Info: shotham.org