Kaiserlicher Wahn, © Filmgalerie 451

Seneca

Robert Schwentke zeigt das politische Haifischbecken der Antike als Zerrspiegel unserer Zeit

Lucius Annaeus Seneca war Stoiker und Politiker — aber nicht immer konsequent. Was er schrieb war eine Sache, und wie er handelte eine andere — was wiederum seine Zeitgenossen ausgiebig und gern scharfzüngig kommentierten. Wer im Haifischbecken der Macht im alten Rom überleben will, sollte sich so allerdings nicht verhalten, denn derart krasse Widersprüche prädisponieren zum Sündenbock. Für seinen Zögling Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus war es denn auch egal, ob Seneca im April 65 Teil hatte an der Pisonischen Verschwörung oder nicht, seine Schuld war einfach zu praktisch — und so hilft es auch nicht, dass der Historiker Publius Cornelius Tacitus später Senecas Unschuld beteuern wird. Ganz davon abgesehen, dass Tacitus auch sein Hühnchen mit Nero zu rupfen hatte .... Seneca wurde die Selbsttötung befohlen — und er gehorchte.

Hier setzt Robert Schwentke mit »Seneca« ein, zeigt den letzten Tag im Leben des Philosophen — mit ein wenig Vorlauf. Wie Schwent­kes »Der Hauptmann« oder »Snake Eyes: G.I. Joe Origins« schon ahnen lassen: Ein klassisches Historienstück mit Oberflächenrealismus-Anmutungen und moderatem Ton möge man sich hier bitte nicht erwarten! Als ewiger Ikonoklast und Moralist lässt Schwentke es inszenatorisch mächtig krachen. Da werden Elemente aus Pier Paolo Pasolini »Die 120 Tage von Sodom« und Tinto Brass’ »Caligula« wild-wüst vermischt, grimmig mit Terry Gilliam und Terry Jones’ »Die Ritter der Kokosnuß« unterhoben, und feixend garniert mit Christoph Schlingensiefs »Die 120 Tage von Bottrop«. Dies resultiert in einem herrlichen Epochenmischmasch in Ausstattung und Kostüm sowie einem Schauspielton zwischen fokussierter Hysterie (John Malko­vich) und purem Camp-Elan (Lilith Stangenberg). Der Film endet in einem finalen Akt voller verblüffender Wunder, von denen keines Seneca rettet. Dass der ganze Furor keine l’art pour l’art ist, demonstriert Schwentke mit einem klugen Metamoment: Seneca gibt seine Inzest- und Kannibalismus-heftige Thyéstīs-Tragödie zum Besten — eine Parabel über Macht und deren Missbrauch, über Hybris und Fall. Entsprechend offeriert Schwenktes »Seneca« ein dialektisches Zerrbildnis unserer Zeit der grotesken Zampano-­Diktatoren, absurden Verschwörungstheorien und furchterregenden Internet-Parallelrealismen. Hier wird die Aufklärung zum Massenvergnügen. Endlich mal wieder! 

D/M 2023, R: Robert Schwentke, D: John Malkovich, Geraldine Chaplin, Tom Xander, 112 Min.