Schreiben im ­Namen anderer

Wer spricht und für wen? Das Literaturfestival Poetica will eine alte Debatte mit den Mitteln der Lyrik ordnen

Sprache ist eine wirksame Dirigentin. Im Sprechen können wir uns geltend machen, unsere Gedanken und Empfindungen äußern, Identitäten und Gemeinschaften bilden. Doch mit Sprache lassen sich nicht nur Identitäten begründen, sondern auch beeinflussen oder demontieren. Die Sprachlosigkeit marginalisierter Gruppierungen und nicht-mensch­licher Entitäten fordert deshalb ein Nachdenken über stellvertretendes Sprechen. Wer spricht für bedrängte Menschen, Tiere und Natur — oder wie die Literatur­wissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak formuliert: »Can the subaltern speak?«

Mit der freien Form der Dichtung scheinen Identitätskonzepte gesprengt werden zu können, doch wurde sie von politischen Systemen daher auch immer wieder missbraucht. Das internationale Lyrikfestival Poetica widmet sich seit 2015 dieser oftmals ausgeklammerten Gattung der Welt­literatur. Veranstaltet von der Universität zu Köln in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, bringt das Kölner Literaturfestival jährlich internationale Dichter*innen mit Lesungen auf die Bühnen der Stadt. Die achte Ausgabe der Poetica fragt in diesem Jahr nach der Möglichkeit eines stellvertretenden Schreibens. Unter dem Leitthema »Das chorische Ich — Writing in the Name of« sind Autor*innen wie die Punk-Ikone Patti Smith, Buchpreisträger*in Kim de l’Horizon sowie acht weitere Dichter*innen aus verschiedenen Ländern eingeladen. Sie alle schreiben stell­vertretend für abgedrängte Minder­heiten, eine unterdrückte Arbei­ter­klas­se, non-binäre Körper oder eine bedrohte Natur. Mit ­ihren Gedichten versuchen sie, im Namen ande­rer zu schreiben, um den Namenlosen einen Namen zu geben und das Unsichtbare sichtbar zu machen.

»Wer Namen nennt, übernimmt Verantwortung«, erklärt Christian Filips in der Programmankündigung des Festivals. Filips, ein deutscher Dichter, Musikdramaturg und Regisseur, ist in diesem Jahr Kurator der Poetica. In seinen eigenen Gedichten spürt Filips ein lyrisches Ich auf, das sich in Krisenzeiten jenseits medialer Selbstdarstellung als spontanes, instantes Ich formiert. Gemeint ist ein chorisches Ich, das sich wie im Chor der griechischen Tragödie als gemeinschaftliche Wahrheit über ein Ideal-Ich erhebt. Denn der Chor, schreibt ­Filips in einem seiner Instant-Krisen-Gedichte, stehe »dem herrschenden Konsens, der Ich heißt, entgegen«.

Ob sich die Dichtung einer Sprache der Zuschreibungen entgegenstellen kann, werden Buchpreisträger*in Kim de l’Horizon und Dichter*in Logan February auf der Poetica gemeinsam diskutieren. Beide Autor*innen haben ihre Geburtsnamen abgelegt und versuchen, ein Schreiben jenseits binärer Weltbilder zu ergründen. Während Februarys Texte die harte Realität einer queeren Identität in der nigerianischen Gesellschaft abbilden, sucht die non-binäre ­Erzählfigur in Kim de l’Horizons Debütroman »Blutbuch« in der eigenen Familiengeschichte nach ­einer Sprache jenseits falscher ­Namen und Benennungen: »Wie wehrt mensch sich gegen all diese Namen, die einem ständig gegeben werden?« Weder durch die Mutter­sprache noch Vatersprache fühlt sich Kim de l’Horizons Erzählfigur repräsentiert. »Ich weiss keine Sprache für meinen Körper.« Die Blutbuche, eine Mutation der Rotbuche im großmütterlichen Garten, wird daher zum Sehnsuchtsort, der entgegen starrer Identitäts­­konzepte als ein Dazwischen exis­­tiert. Denn Kim de l’Horizon glaubt nicht an abgeschlossene Körper, sondern an ein Weltbild, in dem unsere Körper wie Rhizome mit allem verwoben sind. Eine kollektive Selbstbewältigung scheint ­daher nur im fluiden Schreiben möglich.

Über die Selbstbefreiung der Natur aus den menschlichen Zwängen, schreibt die deutsche Schriftstellerin Daniela Danz in ­ihrem Gedichtband »Wildniß«. ­Darin skizziert sie eine Zivilisation, die von der Natur überwältigt wird: Bäume, die aus den Häusern ins Freie drängen und Naturgewalten, die die Menschen aus ihrem Tiefschlaf wecken. Statt sich der Natur durch Bezeichnungen zu bemächtigen, findet das lyrische Ich in Danz’ Gedichten »zu wenig Namen um was wir sehen zu benennen«. Gemeinsam mit der belgischen Dichterin Els Moors und der ukrainische Schriftstellerin Kateryna Kalytko wird Daniela Danz im Rahmen der Poetica nicht nur nach einer Sprache für unsere ­gefährdete Erde fragen, sondern auch danach, was es heißt, »im Namen des Vaterlandes« oder ­einer bedrohten Nation zu ­schreiben.


Wer Namen nennt, übernimmt ­Verantwortung
Christian Filips, Kurator

Auch die Arbeiterklasse hat in der Poesie schon immer nach ­einem Sprachrohr für ihre Anliegen gesucht. Zur Poetica sind dieses Mal vor allem internationale Vertreter*innen eingeladen: Der australische Lyriker Lionel Fogarty spricht in seinen Gedichten für die Aborigines, der haitianische Dichter James Noël schreibt poetisch gegen den Bau von Mauern an, die chinesische Autorin Zheng Xiaoqiong porträtiert in ihrem Werk das Leben der Wanderarbeiterinnen, und die indische Dichterin Sukirtharani zeigt die Rolle der Frau in Kastengesellschaften: »Es ist ein Unterschied, ob man sich eine Identität selbst auswählt oder ob man in sie hineingezwungen wird.« Sich im Schreiben aus dem fest geschnürten Identitätskorsett zu lösen, ist für das lyrische Schaffen dieser Dichter*innen existenziell.

Existenziell ist das Schreiben auch für die US-amerikanische Musikerin Patti Smith, der die Poetica eine eigene Veranstaltung widmet. Zur Musik kam die »Godmother of Punk« nämlich nur, weil sie nach einem Medium zum Vortragen ihrer Gedichte suchte. Literarisches Schreiben und musika­lisches Schaffen lassen sich bei Smith daher nicht trennen. Beides steht unter dem Einfluss der Beat Generation. »Warum schreiben wir?«, fragt Smith in ihrem Buch »Hingabe«: »Ein Chor explodiert. Weil wir nicht nur dahinleben können.« Was Smith bewegt, sind die Geister ihrer Vergangenheit, die sie in all ihren Texten begleiten. Stellvertretend schreibt sie für verstorbene Liebhaber und künstlerische Inspirationen, aber auch für das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Das chorische Ich hallt dabei in all ihren Erzählungen wider, so auch in ihrem neuen »Buch der Tage«. »Was ist der Traum?«, fragt Smith am Ende der literarischen Selbstreflexion in »Hingabe«: »Etwas Schönes zu schreiben, das besser wäre als ich.«

Im Namen anderer zu schreiben, bedeutet Fürsprache, aber auch die Möglichkeit, sich von Zuschreibungen zu lösen und sich für wechselnde Identitäten zu ­öffnen. »Wir werden uns einander wiedergeben/in andern Sprachen. Arten. Unverwandt.« schreibt Christian Filips, der Dichter und diesjährige Kurator. Das Programm leistet einen diversen Beitrag dazu. 

stadtrevue präsentiert
»Poetry Workers — Poetry meet Scenery« Abschlussveranstaltung der Poetica 8. Sa 22.4., Schauspiel Köln, 19.30 Uhr