Fotokünstlerin und Aktivistin: Nan Goldin © courtesy of Nan Goldin

»Mich interessieren Menschen, die Veränderungen herbeiführen«

Laura Poitras’ Dokumentarfilm »All the Beauty and the Bloodshed« erzählt vom Kampf einer Gruppe Aktivist:innen gegen eine Pharmadynastie. Jetzt läuft er auf dem Internationalen Frauenfilmfestival. Wir haben mit der Filmemacherin gesprochen

Ihr Film »All the Beauty and the Bloodshed« handelt vom Kampf der Künstlerin Nan Goldin und ihrer Aktivismusgruppe P.A.I.N. gegen die Sackler-Familie, eine Pharmadynastie, die mit der Opi­oidkrise in den USA ein Vermögen verdient hat. Zugleich tauchen Sie tief in Goldins Vergangenheit und ihr Werk ein. Wie kam diese doppelte Erzählung zustande?

Mich interessieren Menschen, die sich engagieren, oft widerständige Aktivist*innen, die Veränderungen herbeiführen. Die Idee, die ich anfangs hatte, veränderte sich im Laufe des Drehs. Als Dokumentarfilmerin suche ich den Austausch. Ich habe Konzepte und Arbeitsweisen, aber der Film und seine Pro­tagonist*innen lehren mich auch und führen mich auf unerwartete Pfade. Ursprünglich war es die Geschichte der Sacklers, die mich faszinierte, und dass eine kleine Gruppe dieser Milliardärsfamilie solche Kopfschmerzen bereitete. Ich kannte natürlich Nan Goldins Werk und mir schwebte von An­­fang an ein organisches Verweben von Vergangenheit und Gegenwart vor: ihr eigenes Leben und die Opioidkrise in Amerika; die vielen ­Parallelen zwischen Nans Erfahrungen und der amerikanischen Gesellschaft als Ganzes.

Wie haben Sie dabei Nan Goldins Vertrauen gewonnen?

Nach dem ersten Interview war ich sehr bewegt davon, wie sie über sich und ihr Leben sprach. Es hatte eine rohe Ehrlichkeit, ganz ähnlich wie ihre Bilder. Kein Bullshit, sehr persönlich und intim. Es war so einzigartig, wie sehr sie sich öffnete. Und mir war gleich bewusst, dass wir einen Schutzraum schaffen mussten, damit sie sich sicher fühlte. Dazu gehörte, dass sie alle Aufnahmen hören und sehen und ihr Veto einlegen konnte, wenn diese ihr im Nachhinein zu intim waren und sie sie so nicht mit der Öffentlichkeit teilen wollte. Diese Struktur war essenziell. Nan arbeitet auf ganz ähnliche Weise mit den Menschen, die sie fotografiert. Sie ­dürfen jederzeit widersprechen, wenn sie ihre Bilder nicht mehr ausgestellt haben wollen. Als das klar war, wussten wir auch schnell, dass ihre Stimme ein Schlüssel zum Film sein würde. Durch sie wird der Film sehr berührend. Nan Goldin spricht so wahrhaftig über sich selbst, weil sie weiß, wovon sie redet und weil sie etwas mitzuteilen hat, das bei vielen Menschen einen Nerv trifft. Aber um an diesen Punkt zu kommen, vergingen einige Jahre, in denen wir die Voraussetzungen geschaffen haben, dass sie sich geschützt fühlen konnte.

Wie haben Sie das Material strukturiert und die Ästhetik des Films entwickelt?

Mir gefiel das Rohe in Nans Stimme und ich wollte es auf den ganzen Film übertragen. Deswegen habe ich mich in großen Teilen auf sie und ihre Bilder konzentriert. Im Kontrast dazu stehen die turbulenten Aktivismus-Szenen, in denen ich auch Musik einsetze: ein Wechsel zwischen großen opernhaften Momenten und dann wieder wie ein Kammerorchester. Ihre Kunst sollte ein wichtiger Fokus des Films sein, sie ist nicht von ihrer politischen Arbeit zu trennen. Nan vertraute mir ihr Werk an, aber sie war auch sehr präzise in der Auswahl, hatte mehrfach Einwände, wenn Bild und Kommentar für sie nicht zusammenpassten.

Sie haben mit ihren Filmen »Citizenfour« über Edward Snowden und »Risk« über Julian Assange für Aufsehen gesorgt. Verbindet Sie mit Nan Goldin, dass Sie beide mit ihren Arbeiten Risiken eingehen?

Ich halte sie für sehr viel mutiger, als ich es bin. Vor allem auf persönlicher, emotionaler Ebene wagt sie unglaublich viel. Aber auch wie sie sich furchtlos mit dem Establishment und den Mächtigen anlegt. Das macht dieses Projekt so besonders und einzigartig in meinen Augen. Ich bin auch auf »Citizenfour« sehr stolz, aber ich kann nicht behaupten, dass ich Einblick in Snowdens Gefühlsleben bekommen hätte. Für Nan gab es keine Alternative. Sie hatte den Verlust ihrer Community während der AIDS-Pandemie in den 80er Jahren überlebt und als sich das massenhafte Sterben während der Opioidkrise wiederholt hat, musste sie etwas tun. Das war mit einem hohen Risiko verbunden. Die Sacklers sind eine extrem reiche, extrem einfluss­rei­che Familie, die über zwei Jahrzehnte skrupellos Millionen Ab­hän­gige ausgebeutet hat. Dabei nahm sie hunderttausende Tote hin und verdiente ein Vermögen. Es war also klar, dass die Sacklers alles andere als glücklich sind, dass sich Nan Goldin und ihre Aktivist*innengruppe mit spektakulären Aktionen in Museen und anders­wo so engagieren.

Inwiefern sehen Sie sich nicht nur als Beobachterin, sondern Ihren Dokumentarfilm als Teil dieses Aktivismus?

Für mich ist die dokumentarische Form Kino. Ich will Kino machen, Filme sind für mich nicht Mittel für politischen Aktivismus, auch wenn sie ein größeres Bewusstsein für ein Thema schaffen und damit politisch sein können. Genauso wie Nans Fotoarbeiten primär Kunst sind, auch wenn sie sich mit Stigma und queeren Identitäten auseinandersetzen. Und seien wir ehrlich: Kino hat seine Grenzen. Es hat nicht die Macht einen Strukturwandel herbeizuführen. Aber Filme können Menschen erreichen. Und ich bin nicht verärgert, wenn einer meiner Filme politisch etwas bewegt.

 

 

40. Internationales Frauenfilmfest Dortmund + Köln

 

Die Jubiläumsausgabe von Deutschlands ältestem und größtem interna­tionalen Frauenfilmfestival findet vor allem in Dortmund statt. In Köln wird allerdings eine Auswahl mit Höhepunkten des Hauptprogramms präsentiert und vormittags laufen Kurz- und Langfilmprogramme für Kinder und Jugendliche.

Die beiden prominentesten Filme, die zu sehen sein werden, sind Laura Poitras’ »All the Beauty and the Bloodshed« (s. Interview) und der brasilianische Spielfilm »Regra 34«. Der Gewinnerfilm des letztjährigen Filmfestivals von Locarno besticht mit einer ungewöhnlichen Mischung aus rechtsphilosophischen Diskussionen und Live-Sexcam-Bildern. Wesentlich konventioneller ist im Vergleich »Annie Colère«, ein Film über eine Fabrikarbeiterin und Mutter, die im Frankreich des Jahres 1974 zur Kämpferin für Verhütung und legale Abtreibungen wird. Vielversprechend ist das Kurzfilmprogramm aus dem diesjährigen Festival-Fokus »Kompliz*innen« mit Musikvideos und verwandten Grenzgängern aus den Jahren 1911 bis in die Gegenwart. Mit dabei sind Filme von Shirley Clarke (mit Musik von Miles-Davis-Produzent Teo Macero), Peaches und Kurdwin Ayoub. Letztere wird auch im Jugendprogramm vertreten sein mit ihrem tollen Langfilmdebüt »Sonne«.

Infos: frauenfilmfest.com