Am Ende der Kreidezeit

Digitale Tafeln, Anschluss ans Glasfasernetz, Tablets für Kinder und Lehrkräfte: Köln will seine ­Schulen digitalisieren. Doch verändert die neue Ausstattung auch den Unterricht? Teil 5 unserer Serie zur Schulmisere in Köln

Die Kollegen aus Bayern sind abgereist, die ­Bil­dungsmesse Didacta vorbei, erst mal durchatmen. Die Lehrkräfte des Erich-Gutenberg-Berufskollegs (EGB) in Buchheim sind gefragt, wenn es um die smarte Schule der Zukunft geht. »Für mich ist die Virtual-Reality-Brille das Schul­medium der Zukunft«, sagt Detlef Steppuhn, Leiter Neue Technologien am EGB. Kreide wird an der Schule mit neun wirtschaftlich ausgerich­teten Bildungsgängen und einem Wirtschafts­gymnasium seit Jahren nicht mehr benutzt.

Sina Labadi, 12. Klasse, liegt auf einem VR-gesteuerten Fitnessgerät mit krakenartigen Armen, auf dem Kopf eine VR-Brille, vor sich ein Tablet. In der virtuellen Welt fliegt sie gerade im Sturzflug einen Canyon hinunter, weicht durch ihre Körperbewegungen Hindernissen aus. »Das strengt nicht nur alle Muskelpartien an, auch kognitiv ist es herausfordernd«, sagt sie. Der Schulträger — die Stadt Köln — hat das Gerät finanziert. »Die meisten Schulen haben in der Pandemie Tablets beantragt, aber die hatten wir längst«, berichtet Steppuhn. »Wir haben Roboter und VR-Geräte beantragt, weil das die Schlüsseltechnologien der Digitalisierung sind und eine entscheidende Rolle in der zukünftigen Ausbildung spielen werden.« Durch die Nähe zur Wirtschaft sei das EGB mit allem früh dran gewesen: Seit 1995 hat es ein digitales Bildungskonzept, seit 2013 eine digitale Lernplattform, auf der abwesende Schüler alle Unterrichtsinhalte nacharbeiten können. »Im Lockdown haben wir sofort auf Online-Unterricht umgestellt. Es ist keine Stunde ausgefallen.« Morgen steht eine schulinterne Fortbildung zu Künstlicher Intelligenz an. »Der ­Digitalpakt war nur auf Hardware ausgerichtet, Fortbildungen an anderen Schulen laufen erst an.« Das sei ein Fehler gewesen, so Steppuhn.

»Köln zählt zu den Top-Städten in Deutsch­land, was die Digitalisierung der schulischen Infrastruktur angeht«, sagt Schuldezernent Robert Voigtsberger (SPD). Nahezu alle 322 Schulstandorte seien inzwischen ans Glasfasernetz angeschlossen und mit WLAN ausgestattet. Rund 59.000 iPads gebe es an den Schulen, inklusive knapp 11.000 Tablets für Lehrkräfte, dazu 15.000 PCs und 3000 Notebooks. »Das ist die Größe eines riesigen Dax-Unternehmens!«, sagt Voigtsberger. Weitere 11.000 Endgeräte sollen hinzukommen, was bei rund 140.000 Schülerinnen und Schülern  einer Eins-zu-Zwei-Ausstattung entspricht. Nahezu alle Klassenräume werden bis Ende 2024 mit »moderner Präsentationstechnik« ausgestattet. »Gigantische Zahlen«, findet ­Voigtsberger.

Wie die digitale Grundausstattung der Schu­len aussehen und finanziert werden soll, wird im Medienentwicklungsplan der Stadt geregelt. Eine Beratungsgesellschaft aus Bremen erstellt ihn, dann entscheidet der Stadtrat. Im Frühjahr soll ein Medienzentrum im Schanzenviertel in Mülheim eröffnen, in dem Lehrkräfte Geräte ausprobieren, Infoveranstaltungen und »Austauschformate« stattfinden sollen.

Doch mit den Dienstgeräten gibt es Probleme, berichtet Maren Bennemann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die 11.000 iPads für Lehrkräfte hält die GEW für einen Fehlkauf der Stadt. Wegen des Datenschutzes müssen sie das Tablet als alleiniges Dienstgerät nutzen, darauf also auch Zeugnisse oder Gutachten schreiben — mit kleinem Bildschirm und Reisetastatur. »Das ist mit dem Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht vereinbar«, so Bennemann. In einer Protestaktion wollten rund tausend Grundschullehrkräfte ihre Tablets zurück­geben, was das Schulamt unter Androhung dienstrechtlicher Konsequenzen untersagte.

Im Lockdown haben wir sofort auf Online-Unterricht umgestellt. Es ist keine Stunde ausgefallen.
Detlef Steppuhn

»Es geht immer nur darum, iPads anzuschaffen«, sagt Nathalie Binz, Vorsitzende der Stadtschulpflegschaft. Übergeordnete Fragen blieben unbeantwortet, etwa nach Fortbildungsstrategien oder danach, welche digitalen Unterrichtsmethoden geeignet seien. Binz kritisiert auch die Pläne der Stadt, wonach Familien sich auf eigene Kosten ein von der Stadt vorgegebenes Endgerät anschaffen sollen, damit jedem Kind ein Gerät zur Verfügung steht — und sie nicht eins nutzen dürfen, das sie zu Hause haben. »Die Kosten auf die Eltern abzuwälzen, ist eine Unverschämtheit!« Die Stadtschulpflegschaft fordert, dass die Geräte von Schulträger oder Land angeschafft werden.

Erhebungen, wie oft digitale Geräte im Unterricht zum Einsatz kommen, gibt es nicht. Es sei unter anderem abhängig vom Fach und vom Alter der Kinder, so Maren Bennemann von der GEW. Viel hänge auch von den individuellen Kompetenzen der Lehrkraft ab, hier bestehe ein Fortbildungsbedarf zur Professionalisierung. Es fehlten Konzepte und strukturierte Angebote.

Im neuen Erweiterungsbau der Königin-Luise-Schule hängen Touchpanels. »Damit ist ganz anderes Unterrichten möglich«, sagt Schulleiterin Ute Flink, auch Sprecherin aller Gymnasien in Köln. »Wir können kurze Einspieler zum Thema machen oder Tafelbilder erkrankten Kindern zur Verfügung stellen.« Die Fortbildung dafür sei anfangs nach dem Prinzip learning by doing verlaufen, zuweilen seien die Schüler den Lehrkräften behilflich. Generell wünsche sich das Kollegium mehr Zeit, sich mit den Möglichkeiten des digitalen Unterrichtens zu beschäftigen.

Fortbildungen von Stadt und Land gebe es, sagt Flink. »Aber der Bedarf ist sehr groß, das Angebot an Apps und Tools erweitert sich ständig.« Auch an der KLS gibt es nicht für jedes Kind ein iPad. Die Geräte werden auch nur im Unterricht eingesetzt, »wenn es sinnvoll ist«. Etwa, beim gemeinsamen Erstellen eines Textes. Schulbücher werden an Bedeutung verlieren, glaubt Fink. Doch auch an der KLS gibt es Unterrichtsstunden ganz ohne digitale Medien, und es herrscht Handyverbot in den Pausen. »Uns ist wichtig, dass insbesondere die jüngeren Kinder lernen, mit der Hand zu schreiben und ein Heft zu führen«, so Flink. Gefahren der Digitalisierung sind ohnehin an einigen Schulen das größere Thema. Ihre Schüler hätten Bildschirmzeiten von teils zehn Stunden am Tag, erzählt eine Hauptschullehrerin. »Da werde ich den Teufel tun, denen noch das iPad auf den Tisch zu legen.«

»Ob man digital lernt oder nicht, spielt erst mal eine untergeordnete Rolle«, sagt Richard Heinen, Geschäftsführer des Learninglab, einer gemeinnützigen Organisation aus Köln, die Bildungseinrichtungen bei der Digitalisierung berät. Es gehe um gutes Lernen, um die Schulorganisation. »Wir wollen ein Lernen, das auf das Leben und Arbeiten in der digitalen Welt vorbereitet«, so Heinen. Es gehe nicht darum, die alten Matheaufgaben in eine App zu verlagern. Heinen berichtet von einer Schule in Berlin, an der es nur an zwei Tagen pro Woche regulären Unterricht gibt. Hinzu kommt ein Tag Blockunterricht in nur einem Fach, das im Vierwochen-Rhythmus wechselt, ein Tag selbstorganisiertes Lernen sowie ein Tag mit einer Exkursion oder einem Minipraktikum. »Die Schüler sind draußen unterwegs, drinnen werden Räume und Lehrkräfte frei, die mit kleineren Gruppen arbeiten können.« Diese Art des radikal veränderten Unterrichts klappe mit digitalen Werkzeugen besser. Hierfür benötige jedes Kind sein eigenes Gerät.

Heinen kritisiert die Lehrerfortbildung in NRW. »Zu oft werden Lehrkräfte nach einem Input allein gelassen.« Es brauche mehr Austausch zwischen Lehrkräften und auch für sie aktive Lernbegleitung. »Wenn wir von Kindern ein eigenständiges und problemlösendes Lernen erwarten, dann dürfen wir das auch bei Lehrkräften tun. Doch beide brauchen Beratung und Begleitung.«