Radical chic: chilenische Aktivistin

Mi país imaginario

Patricio Guzmán lässt Protagonistinnen der Protestbewegung in Chile zu Wort kommen

In Patricio Guzmáns letztem Film spielte das Gestein der chilenischen Kordilleren real und metaphorisch eine wichtige Rolle beim Rückblick auf die gewalttätige ­Geschichte seines Geburtslandes. Als seit dem 19. Oktober 2019 chilenische Jugendliche erst gegen Fahrpreiserhöhungen und dann für ein besseres Leben auf die Straßen gingen, waren die Steine als Wurfgeschosse wieder präsent. Der in Paris lebende Regisseur war schnell enthusiasmiert vom rebellischen Aufbegehren in der Heimat. Und bald war auch Kameramann Samuel Lahu dabei, wenn die Aktivist*innen ihre Wut hinausschrien oder trommelten und den schwer bewaffneten Militärs in Straßenkämpfen trotzten. Denn von der Regierung unter Präsident Sebastián Piñera wurde das Aufbegehren gewaltsam mit Notstandsrecht und ­Armee gekontert.

Die Politologin Claudia Heiss erklärt in »Mi país imaginario«, dass die extreme staatliche Bru­talität auch mit der fehlenden institutionellen Aufarbeitung der ­Pinochet-Diktatur in Militär und Polizei zu tun habe. Sie ist eine von einem ganzen Dutzend Aktivistinnen, Analystinnen und Unterstützerinnen, die in ausführlichen Gesprächen vor der Kamera zu Wort kommen. Dabei lässt der mittlerweile über 80 Jahre alte Guzmán mit einer deutlichen Geste nur Frauen auftreten. Und begleitet mit sympathisierendem Kommentar die Aufbruchsstimmung, die aus dem Protest eine breit aufgestellte kulturelle Bewegung gegen patriarchale Dominanz und für sozialen Fortschritt werden lässt.

Tatsächlich führt die »indignación« nach einem Jahr zu dem von den Protestierenden geforderten Referendum, bei dem 80 Prozent der teilnehmenden Chilen*innen eine konstituierende Versammlung für die Erarbeitung einer neuen Verfassung befürworten. Eine Versammlung, der mit Elisa Loncón erstmals eine Frau aus dem indigenen Mapuche-Volk als Präsidentin vorsteht. Auch viele andere Abgeordnete treten mit Leidenschaft für demokratische Teilhabe aller Teile der chilenischen Gesellschaft ein. Guzmáns Film endet in diesem Sinn hoffnungsvoll mit einer flammenden Rede des neuen jungen und linken Präsidenten, Gabriel Boric, für Frauenrechte. Dass das im September 2022 folgende Referendum über die mit so viel Engagement erkämpfte neue Verfassung mit klarer Mehrheit abgelehnt wurde, ist nicht mehr Teil des im Mai des Jahres in Cannes urauf­geführten Films. Vermutlich arbeitet Patricio Guzmán schon an der Fortsetzung.

CHI/F 2022, R: Patricio Guzmán, 83 Min. Start: 13.4.