Gedichte in der Jackentasche

Adrian Kasnitz verlegt Bücher und schreibt Lyrik, nebenbei hält er noch die Kölner Indie-Buchszene am Laufen. Gerade ist sein neuer Gedichtband erschienen

Viereinhalb hohe Altbaugeschosse ist man hinaufgestiegen, etwas aus der Puste auf dem vorletzten Treppenabsatz, als man das Lachen in der Stimme von Adrian Kasnitz hören kann: »So halte ich mich fit.«

Mit dem bestellten kleinen Stapel seiner jüngsten Bücher steht der Autor, der in der »parasitenpresse« sein eigener Verleger ist, in der Wohnungstür. Das offene Hemd über dem dunklen Shirt ist etwas hochgekrempelt, seine Augenringe sind unübersehbar. Vor ­einer Dreiviertelstunde ist er aus Berlin zurückgekehrt, hatte eine gemeinsame Lesung mit Wassiliki Knithaki, Sünje Lewejohann und Alexander Rudolfi, der Abend wur­de lang. Gerade häufen sich die Lesungen wieder, denn eine Veranstaltungsförderung des Deutschen Literaturfonds muss bis Ende Juni ausgegeben sein. Ein schwarzer Kater tappt hinter ihm aus der Wohnung, streicht dem Besucher um die Waden, nimmt dann ein paar Stufen hinab.

»Nicht die Treppe runter, ­Sorbas! Hiergeblieben!«

»Unser Interview demnächst, können wir das hier in der Wohnung machen?«

»Hm, ungern. Aber ich habe ein Schreibzimmer im Belgischen Viertel, da können wir uns treffen.«

Ein Termin in der übernächsten Woche ist auch schnell gefunden. Mit vier Büchern geht es die Treppen hinunter.

»Im Sommer hatte ich eine Um­armung«, der neue Gedichtband des Kölner Schriftstellers, schlägt einen ganz eigenen, lakonischen Tonfall an, hier und da einen münd­lichen Sound, zieht die Kürze weit ausholender Bildlichkeit und dich­terischer Pose vor. Es sind prägnante, visuelle, szenische Gedichte, viele ganz amerikanisch auf der Straße angesiedelt wie »Brixton« oder »Sie kamen direkt aus dem Doku-Kanal«. Obst und soziale Medien, Wetter-Apps und Instagram wandern durch die Verse, und immer wieder liest man von Beziehungen und der Sehnsucht nach Intimität, die sich nicht einlösen lässt, denn ich will jetzt küssen / und du willst jetzt nicht. Ich will ins Meer springen / und du willst jetzt nicht. Träumte ich, dir aus Istanbul zu schreiben? demons­triert aber auch, wie kunstvoll gebaut die scheinbar beiläufigen Gedichte sind, wie genau kalkuliert ihre Zeilensprünge. Und manchmal gelingt das Zusammensein eben doch, wie im Jackentaschen-Gedicht:

In meiner Jackentasche steckt ein Park / in dem wir manchmal laufen / (…) wenn du deine Hand / in meine Jackentasche steckst.

Geboren werden die meisten Gedichte unterwegs, erzählt Adrian Kasnitz Ende März in seinem unbe­heizten Schreibatelier. Man blickt auf die Garagenzeile eines Innenhofs, über dem der Hagel zu Schnee­regen geworden, der Frühlingsanfang abgewürgt ist. Wir trinken Earl Grey. »Die Gedichte sind immer da«, sagt der Dichter, mit kleinen Notizen beginnt das, später braucht es Schreibtischpha­sen zum Wachsen, zum Verdichten. Letztes Jahr hat sich Kasnitz eine Zeit lang in der Madrider Wohnung des befreundeten Dichters Pablo Jofré eingeschlos­sen, sich allein dem neuen Gedicht­band gewidmet, weit weg von Köln.

Im Jahr 2000 hat er die »parasitenpresse« gegründet, da war er noch Student der Germanistik und Geschichtswissenschaft. Ein Auslandssemester führte ihn von Köln nach Prag, seine Dissertation beendete er nicht, weil er stattdessen den Roman »Wodka und Oliven« schrieb. Mehrere Gedicht- und Prosabände folgten, 2017 der Roman »Bessermann«, außerdem Übersetzungen. Seine »parasitenpresse« ist mittlerweile einer der wichtigsten unabhängigen Verlage in Deutschland geworden, renommiert vor allem für Übersetzungen aus den »kleinen« Sprachen, etwa dem Lettischen oder Hebräischen. Nur aus der Kommunalpolitik hat er sich zurückgezogen, saß von 2014 bis 2020 für Deine Freunde in der Bezirksversammlung ­Innenstadt.


Ich bin kein Verfech­ter von verkopften Gedichten, es muss eine Ebene im Gedicht geben, die es zugänglich macht
Adrian Kasnitz

»Adrian ist ein Hustler«, sagt der Kölner Schriftsteller Thomas Empl bei einem Kölsch im Stereo Wonderland über seinen Verleger, »der ist zum Beispiel überall selbst für die Büchertische bei Lesungen verantwortlich. Als wir in München gelesen haben und danach in der Kneipe saßen, sagte er irgendwann weit nach Mitternacht: Übrigens, ich steige gleich um sieben in den Zug, damit ich pünktlich zur Abiturfeier in Köln bin. Weil sein Sohn mit der Schule fertig war.«

»Und was für ein Lektor ist Kasnitz?«

»Er lässt einem die Hoheit über den eigenen Text. Bei meinem Buch hat er kaum in das Manuskript eingegriffen, ehrlich gesagt.«

Das ist vielleicht ein Faden, der die schriftstellerische wie die verlegerische Arbeit von Adrian Kasnitz durchwirkt: eine Demut vor, ein Vertrauen in die Autonomie der Literatur. »Ich bin kein Verfechter von verkopften Gedichten, es muss eine Ebene im Gedicht geben, die es zugänglich macht«, sagt Kasnitz. Aber jenseits dieser Ebene brauche es Uneindeu­tigkeiten und Leerstellen, die man aushalten müsse. In seinem neuen Band gibt es Wiener Lokalkolorit, das man kennen oder googlen muss wie albanische und Madrider Geografie, die Sprachgeschichte der Kölner Abfallentsorgung oder Notizlisten von Gerhard Richter und die »Jagers te Paard«, ein belgisches Panzeraufklärungsregiment. »Haus im Wäldchen« und »Sommer Serenade« sind mit Datum und dem­­selben Entstehungsort versehen: Queetz. Und »Sommer Serenade« ist am Seitenrand mit dem polnischen Wort »Gruszy« annotiert, auf deutsch Kruschke, die Birne. Queetz ist der deutsche Name für das heutige Kwiecewo in Nordpolen, wo Adrian Kasnitz bis zu sei­nem fünften Lebensjahr aufwuchs.

Das Haus / stand noch, nur das Land hatte gewechselt, so das beklemmende Charkiw 42-92-22.

Uneindeutig ist auch die Herkunft des Schriftstellers und sein Umgang mit ihr. In der Autorenbio­grafie seiner letzten Bücher steht: »1974 an der Ostsee geboren«, an der deutschen, denkt man. Früher hat er den konkreten Ort preisgegeben, erzählt Adrian Kasnitz, heute spielt er mit seiner migran­tischen Autorschaft, weil sie benutzt wurde, um seine Literatur zu vereindeutigen. Einen der vielen dichterischen Kommentare hierzu liefert das Auftakt-Gedicht »Chefs«, für Kasnitz eines der wichtigsten des Bandes. Darin wird die Arbeiter-Biografie eines Vaters so verhandelt:

Nie sagte er: / geschuftet, nie sagte er: malocht. Arbeit war / immer ein notwendiges Übel, nie Bestimmung / nie ein Ausdruck der Identität.

Zum Abschied draußen auf dem Brüsseler Platz setzt der Schneeregen wieder ein, wir ziehen unsere Kapuzen in die Stirn. Er muss jetzt noch zur Post, sagt Adrian Kasnitz, was den Rucksack auf seinem Rücken erklärt. Darin sind bei der »parasitenpresse« bestellte Bücher, die der Verleger wie jeden Tag in der nächsten Postfiliale aufgeben wird.  

Adrian Kasnitz: »Im Sommer hatte ich eine Umarmung«, ­parasitenpresse, 90 Seiten, 14 Euro

Climate Fiction Cologne, Literarischer Klima-Spaziergang mit Adrian Kasnitz, Justine Bauer, Lisa James und André Patten. 5. Mai, Start am Ebertplatz, 15 Uhr