Nicht nur ein Reitz-Thema

Axel Reitz und andere ehemalige rechte Szene-Größen treten ­mittlerweile als Mahner vor rechter Gewalt auf — in Talkshows oder vor Schulklassen. Lässt sich so menschenfeindlichen Einstellungen bei jungen Menschen vorbeugen?

 »Mein Name ist Axel Reitz. Ich bin bekannt geworden als der Hitler von Köln«. Das Video, in dem diese Worte fallen, ist bis Mitte April

1,3 Millionen Mal aufgerufen worden. Im Youtube-Kanal »Leeroy will’s wissen« spricht der ehemalige Kameradschafts-Nazi Axel Reitz über seine Zeit in der rechten Szene. Ihm gegenüber sitzt eine Frau jüdischen Glaubens, die den Anschlag auf die Synagoge in Halle überlebt hat. Ein gutes Jahrzehnt nachdem er seinen Rückzug aus der extremen Rechten erklärt hat, ist Reitz präsenter als in seiner Nazi-Zeit. Ende Mai erscheint sein erstes Buch. Auf Twitter kommentiert er das politische Tagesgeschehen aus liberal-konservativer Perspektive. Auf Instagram zeigt er sich mit Anzug oder der Urkunde über ein bestandenes Training zum Anti-Gewalt- und Deeskelationstrainer. Auf Youtube kommentiert er Videos von und über andere Rechtsextreme — teils allein, teils gemeinsam mit Philip Schlaffer, einem Ex-Nazi, der später im Rockermilieu aktiv war. Seit 2020 treten er und Reitz als Referenten des von Schlaffer mitbegründeten Lübecker Vereins »Extremislos« auf, der Extremismusprävention an Schulen betreibt.

Mit diesem Lebensweg ist Axel Reitz eine Ausnahme. »Der Großteil von Aussteiger:innen aus der rechten Szene ist später nicht in der politischen Bildung aktiv«, sagt Lisa Meusel von der Ausstiegsberatung NinA NRW. Seit 2009 hat die Initiative über 100 Menschen beim Ausstieg aus der rechten Szene unterstützt. Oft ist diese Beratung Teil von Auflagen, etwa im Rahmen einer Bewährungsstrafe. »Für uns ist dabei wichtig, dass die Personen Verantwortung für ihre Taten übernehmen und ihre demokratiefeindlichen oder rassistischen Einstellungen reflektieren und hinterfragen«, sagt Meusel. Das Bewusstsein, dass diese Einstellungen überhaupt problematisch sind, sei jedoch zu Beginn der Beratung oft nur gering ausgeprägt. »Das ist ein langer Beratungs­prozess — oft zwischen einem und drei Jahren«, erläutert die Sozialpädagogin. Öffentlich über die eigenen Taten zu sprechen, sei oft der erste Schritt in Richtung Schuldübernahme, sagt Meusel: »Das ist nicht verwerflich.« Zu einer späteren Tätigkeit im Bereich der Politischen Bildung würde sie jedoch nicht raten: »Dadurch wird eine rechtsextreme Vergangenheit Teil einer neuen Identität.«

Ein Einzelfall ist Reitz’ Weg aus der rechten Szene zum vermeintlichen Anti-Nazi-Influ­encer jedoch nicht. Die Soziologin Dr. Antje Gansewig und die Pädagogin Dr. Maria Walsh haben im Rahmen einer Medienanalyse Ende der Zehnerjahre 27 ehemalige Rechtsextremist:innen identifiziert, die in der politischen Bildung tätig waren. »Dabei handelt es sich überwiegend um Personen, die in der Szene eine Führungsrolle innehatten«, sagt Maria Walsh. Öffentlich und durchsetzungsstark ­reden, spannende Geschichten erzählen, die die Zuhörer:innen bannen —  das sind Soft Skills, die sich leicht von der rechten Szene in die politische Bildung übersetzen lassen. »Das Feld ist jedoch sehr intransparent«, erläutert Antje Gansewig. So würden die Aussteiger:innen etwa wenig über die Methoden, die ihren Veranstaltungen zugrunde liegen, preisgeben. Auch stehe der Verdacht im Raum, dass sie die Veranstaltungen nutzen, um ihre monetarisierten Youtube-Channels zu promoten. »Wir haben erlebt, dass die Hälfte der 490 Schüler:innen in unserer Studie nach dem Unterrichtsbesuch dieser Person gefolgt ist«, sagt Antje Gansewig. »Auf dem Youtube-Channel wird getrunken, geraucht und es werden Gewaltgeschichten erzählt.«


Bei den Schulbesuchen werden oft rassistische ­Beleidigungen reproduziert oder Gewalttaten geschildert. Manche Schüler:innen haben daraufhin ge­äußert, dass sie dies verängstigt habe
Dr. Maria Walsh, Pädagogin

Die Mobile Beratung des Landkreises Köln rät davon ab, Aussteiger:innen aus der rechten Szene in Schulen, Volkshochschulen oder andere Institutionen der politischen Bildung einzuladen. Trotzdem geschieht dies immer wieder. Antje Gansewig und Maria Walsh haben die Gründe dafür in einer mehrjährigen, bundesweiten Studie untersucht: Mit welchen Prämissen und Zielen werden ehemalige Rechtsextremist:innen in den Unterricht oder zu Vorträgen eingeladen? Und lassen sich diese Annahmen bestätigen? »Pädagogisch tätige Menschen stellen sich oft vor, dass Aussteiger:innen die Gefahren des Rechtsextremismus besonders authentisch vermitteln können«, sagt Antje Gansewig: »Deren Darstellung soll emotional bewegend und nah an der Lebenswelt von Schüler:innen im Jugendalter sein.«  

Diese Annahme lasse sich jedoch kaum veri­fizieren, haben die beiden Wissenschaft­lerinnen herausgefunden. Zum einen müsse man fragen, ob überhaupt eine bestimmte Wirkung auf Schüler:innen vorausgesetzt werden könnte. »Gruppen von Schüler:innen sind sehr heterogen«, sagt Maria Walsh. Bei den Besuchen würden oft rassistische Beleidigungen reproduziert oder Gewalttaten geschildert, manche Schüler:innen hätten daraufhin ge­äußert, dass sie dies verängstigt habe: »Die Perspektive der Opfer von Rassismus oder Anti­semitismus fehlt oftmals«, sagt Walsh. Zudem sei nicht auszuschließen, dass die Schilderungen der Aussteiger:innen Faszination ­anstelle von Ablehnung für ihre Taten hervorriefen — nicht zuletzt, weil sie als Erwachsene die Gelegenheit erhalten, vor vielen Menschen über ihre Zeit als Nazi zu erzählen.

All dies mache es fragwürdig, in der Präven­tion von Rechtsextremismus in dieser Form auf Emotionalisierung zu setzen. »Abschreckung funktioniert nicht im Zusammenhang mit Informationsvermittlung«, sagt Maria Walsh. Daher sei es wichtig, dass der Kontakt mit Aussteiger:innen im Unterricht vor- und nachbereitet werde. Oft seien Schulbesuche von Aussteiger:innen jedoch die einzige Form von Rechtsextremismusprävention an den Schulen, etwa im Rahmen des Projekts »Schule gegen Rassismus.« Dabei habe die Forschung gezeigt, dass langfristige pädagogische Maß­nahmen wirkungsvoller seien, um vor­zu­beu­gen, dass Schüler:innen rechte, demokratiefeindliche Einstellungen bilden.

Und dann ist da noch ein anderes Pro­blem: Wie verlässlich sind die Aussagen von ehe­maligen Rechtsextremist:innen eigentlich? »Wir wissen aus der Gedächtnisforschung, dass wir unsere Erinnerung aus der Gegenwart heraus neu framen«, sagt Antje Gansewig. »Wir täuschen uns dabei oder verschönern die Erinnerung.« Lisa Meusel von NinA zweifelt zudem an, dass die Aussteiger:innen aktuelles Wissen über rechtsextremistische, demokratiefeind­liche Tendenzen vermitteln können: »Der Phänomenbereich verändert sich gerade stark.« Durch die Proteste gegen die Corona-Pandemie und die Präsenz des Internets seien die Zugänge zu rechten, demokratiefeindlichen Einstellungen sowohl leichter als auch subtiler geworden. In der Beratungspraxis hat das Team von NinA mittlerweile oft mit Menschen zu tun, die sich auf Messengerdiensten rassistisch oder anders menschenfeindlich geäußert haben. »Die Strukturen von Kameradschaften oder rechtsextremistischen Parteien haben dagegen an Bedeutung verloren«, sagt Lisa Meusel. Aus diesen Strukturen kommen jedoch viele der Aussteiger:innen, die in der poli­tischen Bildung aktiv sind.

Dadurch verstärke sich eine Fehlwahr­nehmung über rechtsextreme Einstellungen, die in der Gesellschaft weit verbreitet sei, erläutert Meusel: »Rechtsextreme Einstellungen seien demnach vor allem ein Problem, wenn sie in Gewalt münden.« So könne man das Problem menschenfeindlicher Einstellungen an eine kleine Gruppe auslagern: »Fakt ist jedoch, dass solche Haltungen und Meinungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft auf Zustimmung stoßen.«