Lippenstift als Waffe im Arbeitskampf: Isabelle Huppert als Maureen Kearney © Guy+Ferrandis /LeBureauFilms /Heimatfilm

»Wir sind alle ersetzbar, auch ich«

Isabelle Huppert über ihren neuen Film »Die Gewerkschafterin«, die Bedeutung von Äußerlich­keiten und ihre Macht als einer der ­größten Filmstars Frankreichs

»Die Gewerkschafterin« basiert auf der Geschichte von Maureen Kearney, die sich für den Erhalt tausender Arbeitsplätze eines französischen Atomkraftkonzerns einsetzte und 2012 Opfer einer bis heute ungeklärten Attacke wurde. War Ihnen der Fall bekannt?

Nein, und tatsächlich war der Fall fast unbekannt oder vollständig vergessen, auch in Frankreich. Auch das Buch wurde kaum wahrgenommen, als es kurz vor der Pandemie erschien. Ich las zuerst im Drehbuch über sie.

War die gesellschaftspolitische Relevanz des Themas ein Grund, die Rolle anzunehmen?

Nicht für mich. Ich halte das für die falsche Herangehensweise. Ich mache Kunst, nicht Aktivismus. Als mir Jean-Paul Salomé, mit dem ich zu­vor »Eine Frau mit berauschenden Talenten« gedreht hatte, von der Idee erzählte, erkannte ich gleich das Potential. Der Film ist politisch, aber nicht nur. Mich interessierte dabei vor allem, eine vielschichtige Filmfigur zu ent­wickeln.

Sie spielen die Hauptfigur sehr widersprüchlich. Warum?

Ich wollte sie als Figur glaubwürdig machen, aber genauso den Argwohn und die Verdächtigungen, die ihr entgegenschlagen. Man kann diese Geschichte nicht einseitig erzählen. Für mich als Schauspielerin macht das die Rolle erst interessant, sie so zu spielen, dass auch der Verdacht gegen sie nachvollziehbar ist. Sie wehrt sich dagegen, einfach das gute Opfer zu sein. Und das kommt vielen verdächtig vor.

Haben Sie sie getroffen?

Sie hat uns am Set besucht. Aber vorher wollte ich sie gar nicht kennenlernen. Ich habe nur Fotos von ihr gesehen, um mich für den Look inspirieren zu lassen. Sie ist immer akkurat gestylt, mit ihrer strengen blonden Frisur wirkt sie wie eine Hitchcock-Heldin.

Warum ging es Ihnen lediglich um das Aussehen? Haben Sie sie nicht über den Fall an sich, ihre Erfahrungen befragt?

Die Figur besteht nur aus Fragen, das macht es so spannend. Sie ist Feministin, ohne sich als solche zu bezeichnen. Sie agiert politisch, ohne sich dessen bewusst zu sein. Was sie hat, ist eine soziales Bewusstsein, auf eine sehr simple Weise. Sie setzt sich für den Erhalt von Arbeitsplätzen ein. Nur dass es in ihrem Fall um 50.000 Jobs im größten Nuklearunternehmen Frankreichs geht. Und das ist ein großer Berg, zumal sie alleine kämpfen muss. Das ist ihr anfangs nicht klar. Für mich ist sie eine tragische Figur, eine Antigone, eine gegen alle. Und erst langsam begreift sie, welches Spiel um sie herum gespielt wird.

Es ist nicht das erste Mal, dass Sie eine Frau spielen, die gegen Unrecht kämpft. Was macht diese Art Rollen so interessant?

Ich suche nicht gezielt danach und das ist nicht meine Motivation, einen Film zu machen. Ich bin auf keiner Mission. Das sollte auch das Kino an sich nicht sein. Ein Film kann Fragen stellen, die auf Resonanz stoßen. Aber wir sollten uns davor hüten, Antworten zu predigen.

Das klingt, als mache es für Sie kaum einen Unterschied, ob sie eine fiktive Figur oder eine reale Person spielen.

Das ist richtig. Weil auch eine reale Person im Spielfilm zur fiktiven Figur wird. Ich entwickele meine Version. Etwa die Art, wie sie Lippenstift aufträgt, um nicht in die Opferrolle gedrängt zu werden. Ein wichtiges Detail, aber komplett erfunden.

Sie sind dafür bekannt, nicht vor dem Dreh zu proben.

Weil ich es für unnötig halte. Es geht doch um das, was im Moment passiert. Warum also schon vorher machen und es dann für die Kamera lediglich wiederholen? Meine Vorbereitung ist vor allem, das Äußere zu finden. Das ist meine Art, mir eine Rolle anzueignen und eine Figur zu erschaffen.

Apropos Macht: Sie sind einer der größten Filmstars Frankreichs. Mit den Rollen, die Sie auswählen, haben Sie großen Einfluss darauf, über welche Themen gesprochen wird. Einige Filme werden nur gedreht, weil Sie dabei sind.

So viel Einfluss habe ich wirklich nicht. Ein Film hängt von so vielen Parametern ab. Natürlich kann die Zusage einer bekannten Schauspielerin helfen, aber das ist nicht allein entscheidend. Und es kann ganz sicher nicht alle Rückschläge ausgleichen.

In diesem Fall hat Regisseur Jean-Paul Salomé die Rolle aber explizit für Sie geschrieben. Ohne Sie gäbe es diesen Film nicht.

Nun gut. Aber die wahre Geschichte, auf der er basiert, passierte nicht für mich. Und wenn nicht wir den Film gemacht hätten, hätte womöglich jemand anderes die Geschichte verfilmt. Wir sind alle ersetzbar, auch ich.

Der Fall ereignete sich vor mehr als einer Dekade. Was hat sich seitdem verändert? Gibt es inzwischen ein anderes Bewusstsein, eine andere Sensibilität in Sachen Gleichberechtigung und toxischem männlichem Verhalten?

In den letzten zwei, drei Jahren ist einiges in Bewegung geraten. Frauen zeigen ein neues Selbstbewusstsein und vieles, was lange hingenommen wurde, ist heute nicht mehr akzeptabel. Aber wir sind erst noch am Anfang, es gibt noch viel zu tun, was Chancengleichheit angeht. Ich hatte Glück, ich musste nie kämpfen. Aber die Kämpfe anderer Frauen sind mir sehr bewusst.

Inwieweit kann ein Film wie dieser die durch #metoo angestoßene Debatte bereichern?

Der Film handelt vom Kampf um soziale Gerechtigkeit, der Missbrauch ist nur ein Aspekt davon. Und ganz ehrlich: #metoo hat viel Gutes erreicht, aber es ist nicht so, dass wir vorher komplett taub und blind waren und plötzlich aufgewacht sind. Auch vorher wussten wir, dass es Sexismus und Benachteiligung gibt und es wurden Missbräuche erkannt und benannt. Dafür brauchten wir kein #metoo. Und auch heute wird Opfern von Vergewaltigungen oft immer noch nicht geglaubt.

Aber es wird ihnen heute eher zugehört, oder?

Ja, ich will den Einfluss von #metoo auch gar nicht kleinreden. Aber ich wehre mich dagegen so zu tun, als ob uns der Missbrauch vorher nicht bewusst war und als ob wir nicht denken und handeln konnten.

Die Gewerkschafterin
Biopic, Thriller. Maureen Kearney vertritt als Betriebsrätin die Angestellten eines großen französischen Nuklearunternehmens. Als sie erfährt, dass der neue Chef künftig mit chinesischen Firmen kooperieren will, befürchtet sie den Verlust von Arbeitsplätzen. Unermüdlich recherchiert sie, informiert die Medien und setzt Wirtschaft und Politik unter Druck. Dann wird sie in ihrem Haus überfallen, ein sexueller Übergriff, der eine Reaktion auf ihren Aktivismus sein könnte. Der anfängliche Wirtschaftskrimi entwickelt sich zum Gerichtsthriller, bei dem die Glaubwürdigkeit des Opfers selbst in Frage gestellt wird. Isabelle Huppert spielt die Einzelkämpferin mit faszinierender Ambivalenz. Ein vielschichtiges und spannendes Drama, das auf einem realen Fall basiert. (Thomas Abeltshauser)
(La Syndicaliste) F/D 2022, R: Jean-Paul Salomé, D: Isabelle ­Huppert, Grégory Gadebois, Yvan Attal, 122 Min. Start: 27.4.