Rätselhaft: Agathe Bonitzer © Grandfilm

Music

Angela Schanelec interpretiert den Ödipus-Mythos auf ihre ganz eigene Art

Ausgerechnet als Autorin wurde Angela Schanelec bei der jüngsten Berlinale mit dem Silbernen Bären geehrt — obwohl das Kino der Berliner Filmemacherin seine eigentüm­liche Form gewiss nicht auf dem Papier gewinnt. »Music« verzichtet sogar über weite Strecken auf Dialog, und ein Plot ist nur mit Fantasie und unter Vorbehalt aus dem sparsamen Geschehen auf der Leinwand herauszulesen. Dass die Wettbewerbsjury trotzdem das Drehbuch dieses Films für besonders preiswürdig erklärte, ist wohl vor allem ein Indiz für die Schwierigkeit, seine spröde Faszination in den Griff zu bekommen.

Dabei hilft es zu wissen, dass die 1962 geborene Schanelec sich zu ihrem zehnten Spielfilm vom Ödipus-Mythos inspirieren ließ. Manche Kernelemente dieses Vor­bilds fallen hier allerdings unter den Tisch, wohingegen andere — etwa die Tötung des Vaters — nur dann als Paraphrase wiederzuerkennen sind, wenn man voraussetzt, dass einzelne Filmfiguren im Laufe von etwa zwei Jahrzehnten um keinen Tag altern. Dass Ödipus inhaftiert worden wäre, berichtet wohl keine der antiken Quellen; in »Music« sitzt der Jon genannte Protagonist (Aliocha Schneider) indes im Gefängnis, als er der Wärterin Iro (Agathe Bonit­zer) — wieder? — begegnet, mit der er später zusammenlebt und eine Tochter hat.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Schanelec von der bekannten Überlieferung abweicht, hat den verblüffenden Effekt, ihrem Stoff trotz seiner schroffen Rätselhaftig­keit eine angenehme Nonchalance zu verleihen. »Music« mag ein bisschen anstrengend sein, aber er ist gewiss nicht wichtigtuerisch. Da die minimalistische Erzählweise nicht imponieren will, bereitet es zwanglose Freude, im Nachhinein die Ellipsen nachzuvollziehen, mit denen Regie und Montage fast unmerklich Jahre überbrücken.

Dass die offenbleibenden Fragen befremden, lässt sinnliche Akzente umso mehr zur Geltung kommen. Das beginnt mit schlich­ten Landschaftsaufnahmen und setzt sich fort mit Naheinstellungen, in denen die changierende Farbtemperatur oder die Textur der eigenwillig gestalteten Uniformen, die Gefängniswärterinnen und Häftlinge tragen, einen geradezu haptischen Reiz entfalten. Und es gipfelt, nachdem die Handlung von der griechischen Küste plötzlich nach Berlin ver­lagert worden ist, in Gesangseinlagen, die so betörend klingen, dass Ödipus schließlich kaum noch von Orpheus zu unter­scheiden ist.

D/F/G/SRB 2023, R: Angela Schanelec, D: Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer, Agyris Xafis, 108 Min. Start: 4.5.