Was unterscheidet Sofas von Menschen? Clownin Marija Baranauskaité und ihr »Sofa-Project«. Foto: Dainius Putinas

Der Zirkus ist in der Stadt!

Das Kölner CircusDanceFestival will das koloniale Erbe seine Genres kritisch reflektieren. Mitten im Zentrum: der politische Körper

Draußen Nieselregen an einem Märztag, drinnen klappert das Früh­stücksgeschirr: Auf einen Tee schaut Tim Behren im Cafè Sehnsucht vorbei. Es ist einer der letzten möglichen Termine, um ihn zu treffen, bevor er mit seiner Kompanie Overhead Project für fast zwei Wochen auf Tournee nach Großbritannien aufbricht.

»What is left« heißt das Stück über die »brutale Schönheit von Frontalität und der alltäglich so­zialen Fashionwalks dieser Welt«: Fünf Performer*innen zwischen passivem Voyeurismus und solidarischer Abhängigkeit, irgendwo zwischen Laufsteg und Militär­parade. Doch bevor die Tour nach Salford, Bristol und London losgeht, gibt es für Tim Behren noch einiges zu tun: Als künstlerischer Leiter kuratiert er das CircusDanceFes­tival, das vom 20. bis zum 29. Mai zum vierten Mal in Köln stattfindet.

»Das Programm steht, jetzt geht es um den Feinschliff«, erzählt Tim Behren. Am Morgen hat er bereits Texte zu den einzelnen Stücken geschrieben. Die Begeisterung, die sich dabei für die eingeladenen Künstler*innen und Performer*innen in ihm aufgeladen hat, merkt man ihm deutlich an. Denn in dieser Festivalausgabe geht es um ein Thema, das Tim Behren, selbst ausgebildeter Zirkusakrobat, viel beschäftigt — nämlich um die Frage, wie der zeitgenössische Zirkus mit seinem historischen Erbe umgeht. »Der Zirkus hat seinen Ursprung auch in den Freak-Performances, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem in den USA ihre goldene Zeit hatten«, erzählt Behren. Meint: Exhibitionen von Menschen, die aufgrund körperlicher Merkmale nicht dem normativen Bild entsprachen — ausgestellt, um das Publikum zum Staunen zu bringen. »Mit dieser Geschichte muss sich der zeitgenössische Zirkus auseinandersetzen«, findet er. Und auch mit dem Paradox, das der Situation der damaligen Performer*innen eigen war: »Auf der einen Seite wurden sie ausgebeutet, auf der anderen entstand für sie zumindest in diesem marginalisierten Kontext ein gewisser Grad an Autonomie.«

Eine kritische Reflektion darüber wollen Tim Behren und sein Team in diesem Jahr aufgreifen, deswegen haben sie den Körper ins Zentrum des Festivalprogramms gestellt. Sie wollen weg von der normativen Virtuosität, die den Körpern der Perfomer*innen im klassischen Zirkus eingeschrieben wird, und hin dazu, den Körper als politischen Körper wahrzunehmen. Frei nach dem Performance-Forscher Ronald J. Pelias, der untersucht, auf welche Weise die Beziehung der Darsteller*innen zur Welt, geprägt durch Herkunft, Klasse, Gender, beeinflusst, wie ihre Körper auf der Bühne eingesetzt und vom Publikum wahrgenommen werden. Oder wie die Zirkuswissen­schaftlerin Angélique Willkie es schreibt: den Körper der Performer*innen als relational zu verstehen, um ihn in seiner Individualität mit all seinen Geschichten wahrnehmen zu können.


Was passiert, wenn ein Körper auf der Bühne einvernehmlich eingeschnürt wird? Ein Pakt,
der Machtdynamik, Ver­antwortung und Gefühle explizit ­werden lässt

Während der Festivaltage werden auf der Bühne insgesamt 23 internationale Arbeiten zu sehen sein, dazu Podiumsdiskussionen, Filmabende, Konzertperforman­ces und Festivalpartys. Novum in diesem Jahr: Zum Auftaktwochenende am 20. und 21. Mai geht es mitten in die Stadt, an den Josef-Haubrich-­Hof vor der Zentralbibliothek. Nachmittags, zwischen 15 und 18 Uhr, werden hier Stücke gezeigt, die den Körper innerhalb der Architektur erforschen, etwa in »Passing by« von dem internationalen Akrobat*innentrio Knot on Hands, bei dem Gleichgewicht und Rhythmus immer wieder aus den Fugen geraten, wenn Treppen, Mauern und ganze Bauten sich zu drehen beginnen. Auch die Compagnie Barks aus Frankreich widersetzt sich der Schwerkraft — mit dem Pantographen, einer futuristischen Skulptur, die sich mit einer Reichweite von bis zu sechs Metern in den Luftraum aufspannt. Das Duo Sinking Sideways folgt im White Cube des Hauses der Archtiketur dem Momentum des rollenden Körpers.

»Anschließend ziehen wir dann weiter ins LATIBUL, dem Festivalzentrum am Rhein«, erzählt Tim Behren. Hier wird unter anderem das Stück »VanThorhout« auf die Bühne kommen, das der aus Belgien stammende Performer Alexander Vantournhout konzipiert hat. Eine Auseinandersetzung mit männlichen Rollenbildern aus männlicher Perspektive — ausgehend von dem germanischen Gott Thor, der außergewöhnlich stark ist und Gewitter entfesseln kann. Immer in seiner Griffweite: der Mjölnir, ein Hammer mit kurzem Stiel. Wann entgleitet die Kontrolle über den Hammer? Und was wäre, wenn sich Bilder über männliche Macht auflösen könnten?

Auch auf dem Programm: »EZ« — »Nein« auf Baskisch — von Elena Zanzu, das von Schmerz, Verlässlichkeit, Konsens und Fürsorge handelt und fragt: Was passiert, wenn ein Körper auf der Büh­ne einvernehmlich eingeschnürt und manipuliert wird? Ein Pakt, der Machtdynamik, Verantwortung und Gefühle explizit werden lässt, sowohl bei der Person auf der Bühne als auch denen im Publikum. Wie weit ist der Raum für gemeinsame Achtsamkeit? Gibt es ein Ritual? Gibt es Platz für Lachen?

Letzteres auf jeden Fall bei den Stücken von Marija Baranauskaité, die mit gleich zwei Performances im Festivalprogramm vertreten sein wird: Inspiriert von Shows, die sich an Zimmerpflanzen oder Haustiere richten, hat die litauische Clownin das »Sofa-Project« entwickelt: eine Performance, die sich explizit an Sofas richtet — und die Fragen aufwerfen, welche Beziehungen Menschen überhaupt zu Sofas aufbauen können? Was unterscheidet Sofas von Menschen? Ist Bewusstsein überhaupt nötig, um Publikum oder Performer*in zu sein? In »The Duck Performance« nimmt die Künstlerin das Publikum, ausgehend von der Stadthalle in Köln-Mülheim, dann im Entenmarsch mit — zum grandiosen Höhepunkt am Teich, wo die »echten« Enten zu Performer*innen werden. Die »DUCKumentary about Marija Baranauskaité« von Filip Jacobson, die ebenfalls beim Festival zu sehen sein wird, erforscht das kreative Chaos der Künstlerin und erzählt von ihrem surrealistischen Humor.

»Wir sind wirklich sehr groß geworden«, stellt Tim Behren am Ende des Gespräches im Café Sehn­sucht lachend fest, bei dem nicht nur der inhaltliche Schwerpunkt, sondern auch 360-Grad-Bühnen, eine Erfindung des Festivals, und diverse Programmpunkte besprochen wurden. »Einen Aspekt adaptieren wir letztendlich übrigens doch weiterhin vom klassischen Zirkus«, sagt er. Zwar nicht mit einem Auto mit Lautsprecher, aber mit einem Fahrrad wolle man vorab durch die Straßen Kölns ziehen: »Wir wollen den Menschen sagen, der Zirkus ist in der Stadt. Kommt alle und staunt!«

4. CircusDanceFestival, 20.–29. Mai, diverse Orte