Himmelfahrt mit Isomatte

Materialien zur Meinungsbildung

Mir fielen alte Zettel in die Hand, auf denen ich notiert hatte, was zu tun war. Vermerke eines Gehetzten, der sich müht, Überblick zu bewahren. Es verunsichert die meisten Menschen, auf vergessene Zeugnisse ihrer Vergangenheit zu schauen. Es ist, als schaute man auf das Leben eines Fremden. So erging es mir hier. Wofür brauchte ich damals »10-12 mittelgroße Trichter, bis Freitag«? Wer war noch mal »Defne Moll«? Und auch auf »Kleber Gesine Himmelfahrt mit Isomatte« konnte ich mir keinen Reim mehr machen.

Was mich jedoch erschütterte, war, dass all das, was über die Zeit zu einem Rätsel geworden war, nunmehr völlig ohne Belang war. Jede Dringlichkeit war verflogen, ohne dass ich etwas unternommen hätte. Der Faulpelz wurde belohnt. Ich war der Held eines amoralischen Märchens.

Aber warum geschieht das? Es ist doch nicht so, dass ich all dies nicht ernst nähme. Aber ich kann nicht. Es überfordert mich. Himmelfahrt, Defne Moll, die zehn Trichter, alles! Was leicht von der Hand geht, erledige ich sofort. Was ich aufschiebe und -schreibe, ist das, was zu scheitern droht. Ich bin noch immer das Kind, das Furcht hat, dass der Sportlehrer es aufruft, damit es den Felgaufschwung vorführt, den es nicht beherrscht, worauf die ganze Klasse in schallendes Gelächter ausbrechen wird. Ich bin das Kind, das vorgibt Bauchweh zu haben, um den Sportunterricht zu schwänzen, am besten bis zu den großen Ferien, bis zum Ende der verdammten Schulzeit!

Ich habe nicht nur den Felgaufschwung nicht gelernt, sondern auch das nicht, was heute ­jedes Kind schon beigebracht ­bekommt: sich zu präsentieren, zu performen, selbstbewusst aufzutreten. Ja, ich hätte statt Bauchweh zu simulieren, einfach erhobenen Hauptes ans Reck ­treten und Pups-Geräusche si­mulieren können. Eine Laufbahn als Klassenclown, womöglich über die Schulzeit hinaus, ist immer noch besser, als sich wegzuducken. Manche bringen es zum Youtube-Star.

Allein, mir fehlt auch hier das Talent. Dass heute darauf geachtet wird, dass möglichst ein jeder gehört und »sichtbar gemacht« wird, samt seiner Anliegen, Bedürfnisse und Gefühlslagen, das mag ein nobles Ansinnen sein — aber es hat auch etwas Bedrohliches. Was ist mit jenen, denen das schon zu viel ist? Für so viele Gefühlslagen und Verhaltensweisen bringt man nun endlich Verständnis auf, nur nicht für die Schüchternheit. Man bemerkt sie nicht einmal oder übersieht sie geflissentlich, denn sie sprengt das System.

Wenn das Private, wie viele jetzt wieder sagen, politisch sei — dann gehört es der Definition nach in die Öffentlichkeit, auf den Markt­platz, wo ein jeder darüber befinden kann, befinden darf und womöglich sogar befinden soll. Die Floskel »kein Kommentar«, früher für Bedrängte ein rhetorischer Rettungsanker bei schwerer See, ist ebenso verschwunden wie das Erröten oder die noble Geste, auf Ungehöriges nur mit Schweigen zu antworten.

Und ich schreib weiter Zettel voll. Ein Türkischkurs? Mit Gesine Stabroth, die so gut darin ist, Sprachen zu erlernen? Das kann nur peinlich werden. Das alte Akkordeon von Oma Porz endlich zur Reparatur bringen? Bloß um zu ­erfahren, dass jede Hilfe zu spät kommt, weil ich das vormals gut gepflegte Instrument über Jahre im feuchten Keller lagerte? Defne Moll anrufen und klären, was damals eigentlich los war? Gott bewahre! All diese Dinge nehme ich aus meinem Kopf und schreibe sie auf Zettel. Und schon sind sind sie nur noch das Gedankengerümpel eines sonderbaren Fremden. Auf dem Weg zum Einkauf — »Haferflocken, Butter, Schlesische Gurkenhappen Oma Porz, zehn Trichter (Baumarkt)« — habe ich ihn schon vergessen.