Rätselhaftes Argentinien: Laura Paredes, © Grandfilm

Trenque Lauquen

Laura Citarellas Zweiteiler ist ein Geschenk an alle, die Geheimnisse lieben

Wer nach aufregendem, ungewöhn­lichem, formal gewieftem Erzählkino sucht, kann sich seit einigen Jahren im argentinischen Kino wohlfühlen. Das liegt unter anderem an der unabhängigen Produktionsfirma El Pampero Cine, die immer wieder Filme ermöglicht, bei denen sich nostalgische B-Movie-­Erfahrungen verbinden mit modernistischer Verspieltheit, narrativen Obsessionen à la Jorge Luis Borges, Serienaffinität und aus allen Kanälen schwappender Kinoliebe. Der zweiteilige, insgesamt mehr als vier Stunden lange »Trenque Lauquen« bildet da keine Ausnahme, er ist sogar der Höhepunkt dieses Schaffens.

Regisseurin Laura Citarella, die mit »La Flor« den bislang größten Erfolg der Gruppe produzierte, versteht den Film als Fortsetzung ihres 2011 entstandenen Spielfilms »Ostende«. Aber das ist nur eine Randbemerkung wert, schließlich setzt sich hier alles ­unentwegt fort, verwebt sich und endet nie. »Trenque Lauquen« ist die Antithese zu einer Welt, die glaubt, alles zu wissen, ein Geschenk für alle, die ein leichtes Kribbeln verspüren, wenn es um schier unlösbare Geheimnisse geht. Ein Film, der daran erinnert, dass das Kino ein Medium der Nächte ist, in ­denen alles möglich wird.

Der durch die Zeiten und die Genres Thriller, Noir, Melodram, Horror, Spionage, Komödie, Sci-­­Fi und Drama springende Film beginnt so wie viele große Werke der Filmgeschichte, nämlich mit einer Abwesenheit. Laura ist verschwunden, sie ist Biologin und spricht gelegentlich im Radiosender der an Twin Peaks gemahnenden Kleinstadt Trenque Lauquen über bedeutende Frauen der ­Wissenschaftsgeschichte. Gesucht wird sie von ihrem Freund Rafa, einem selbstverliebten Macho, der dabei war, mit ihr ein Haus zu bauen, sowie von Ezequiel, einem schüchternen Vater, der sie auf der Suche nach seltenen Pflanzen chauffiert hat und zu dem sie sich hingezogen fühlt.

»Trenque Lauquen« ist die Antithese zu einer Welt, die glaubt, alles zu wissen, ein Geschenk für alle, die ein leichtes Kribbeln verspüren, wenn es um schier unlösbare Geheimnisse geht

Im Stil des Film noir entfaltet »Trenque Lauquen« mit ineinander verschränkten Rückblenden mehrere Handlungsstränge. Doch statt den Rätseln auf die Spur zu kommen, bringt jede weitere Figur, jeder weitere Handlungsschritt neue Ungereimtheiten mit sich. Eine geheime Liebesaffäre offenbart sich durch in Büchern versteckte Briefe; eine seltsame, apart auftretende Frau erscheint plötzlich und sucht nach gelben Blumen; und dann wird auch noch ein geheimnisvolles Wesen im lokalen See gefunden. Nähe zwischen Menschen entsteht hier ausschließlich, wenn diese sich für das gleiche Enigma begeistern. So erzählt Laura Ezequiel von den Briefen, und die beiden finden sich wieder in den Worten der beiden Liebenden. Das geht so weit, dass Ezequiel in weiteren Flashbacks gar in die Rolle des ­italienischen Liebhabers aus vergangenen Zeiten schlüpft.

Die narrativen, zeitlichen, geschlechtlichen und filmischen Grenzen werden aufgelöst. Citarella arbeitet als Regisseurin da­bei mit großer Liebe zum Detail. Sämtliche Figuren bekommen ein eigenes musikalisches Thema (der Soundtrack von Gabriel Chwojnik ist ohnehin eine große Kinolust), visuelle und narrative Motive ­kehren wieder und bilden überraschende Brücken, beispielsweise die Farbe Gelb. Unter allem liegt ein feministischer Subtext, der verschiedene Lebensweisen von Frauen vorstellt und den männlichen Blick darauf ins Leere laufen lässt. So will Laura womöglich nicht so gerettet werden, wie es die sie suchenden Männer erwarten. Eigentlich will nichts und ­niemand gefunden werden, vor allem nicht die Frauen.

»Trenque Lauquen« ist eine Hymne an Begehren, Erinnerungen und Ängste, an das, was sich nicht festhalten lässt, sondern sich immer weiterbewegt. Dieses unbestimmte Etwas wandelt wie der Film ständig die Form. Das geht so lange, bis »Trenque Lanquen« selbst zum großen Enigma wird, zur faszinierenden Metapher für das Ominöse des Lebens. Dann stellt sich den Zuschauenden eben jene Frage, die sich schon den Figuren durchgehend stellte: Folgen wir? Die Antwort lautet im Sinne eines Kinos, das uns träumen lässt: Ja, unbedingt!

ARG 2022, R: Laura Citarella
D: Laura Paredes, Juliana Muras, Ezequiel Pierri
129 min (Teil 1), 132 min (Teil 2)
Start: 1.6.