Vielschichtig: Sandra Hüller in »Anatomie d’une chute«

Bescheidenheit gewinnt

Die Palmen sind vergeben: Das Filmfestival von Cannes aus deutscher – und Kölner – Sicht

So erfolgreich war Deutschland in Cannes seit langer Zeit nicht mehr. Man muss allerdings genauer hingucken, um das zu sehen, taucht doch kein einziger deutscher Name in der Palmen-Gewinnerliste auf. Nennen muss man vor allen anderen Sandra Hüller: Sie spielt nicht nur eine der beiden Hauptrollen in Jonathan Glazers »The Zone of Interest«, der am Ende des Festivals mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde (mehr dazu hier), sondern auch die Hauptfigur im Palmen-Gewinner »Anatomie d’une chute« von Justine Triet.

Hüller glänzt hier als deutsche Autorin und Übersetzerin Sandra, die mit ihrem Mann Samuel in Grenoble lebt. Als der bei einem Sturz aus dem oberen Stock ihres gemeinsamen Hauses ums Leben kommt, gerät sie unter Verdacht, ihn ermordet zu haben. Was folgt ist weniger ein Whodunnit oder ein Gerichtsdrama als die postmortale Anatomie einer Beziehung. Eine Beziehung, die zum einen dadurch belastet wurde, dass Sandra ihren Mann verantwortlich gemacht hat für einen Unfall, der ihren gemeinsamen Sohn das Augenlicht genommen hat, zum anderen, dass Samuel unter einer Schreibblockade litt, während seine Frau Beruf und Familie erfolgreich parallel bewältigen konnte. Hüller fischt mit ihrer Darstellung nicht nach Sympathien, sondern spielt eine Frau, die kantig bleibt.

Auch wenn Glazers Werk der gewagtere und formal interessantere Film ist, geht die Goldene Palme für Triet in Ordnung für ein Beziehungsdrama, das ebenso vielschichtig ist wie brillant konstruiert. Die beiden höchsten Auszeichnungen des Festivals für »Anatomie d’une chute« und »The Zone of Interest« dürften Sandra Hüller allerdings die Palme für die beste Schauspielerin gekostet haben, der ging an Merve Dizdar für ihre (eher kleine) Rolle in Nuri Bilge Ceylans mal wieder meisterlichem »Kuru otlar ustune«. Als bester Darsteller wurde Yakusho Kōji geehrt, der in so gut wie jeder Einstellung von Wim Wenders »Perfect Days« zu sehen ist.

Yakusho spielt einen wortkargen Toilettenreiniger in Tokio, dessen Leben trotz seines niedrigen sozialen Status völlig erfüllt zu sein scheint. Seinem Job geht er mit gewissenhafter Sorgfalt nach, in seiner Freizeit liest er Weltliteratur, die er aus der Grabbelkiste eines Aniquariats holt, hört Musik aus seiner Tape-Sammlung oder genießt den Sonnenschein, der durch Blätter fällt. Es ist ein einfaches Leben voller Dankbarkeit und Bescheidenheit. Leicht könnte der Film abrutschen in Achtsamkeits- oder Sozialkitsch, in dem die kleinen Freuden des Lebens gesellschaftliche oder politische Schieflagen unsichtbar machen oder das Leben der »kleinen Leute« romantisiert wird. Aber Wenders Inszenierung ist selber so bescheiden – aber nicht kunstlos – und so reich an liebevollen Details, dass man ihm seine Sentimentalität kaum vorwerfen mag. »Perfect Days« ist wahrscheinlich Wenders bester Film seit Jahrzehnten. Und es ist überhaupt nur einer von drei Filmen deutscher Regisseur*innen, die es in der letzten Dekade in den Wettbewerb geschafft haben – zum Vergleich: Italien hatte allein dieses Jahr drei Filmemacher*innen in der Konkurrenz um die Palmen.

Macht man sich auf die Suche nach deutscher Präsenz jenseits der kreativen Bereiche, lässt sich mit einem abgewandelten Spruch der Friedensbewegung sagen: Deutsche Kameras und deutsches Geld drehen mit in aller Welt. Bei einer Umfrage der Webseite Indiewire unter 45 Produktionen, die ihre Weltpremiere in Cannes feierten, kam heraus, dass 80 Prozent auf Arri-Kameras (digital und analog) gedreht wurden – eine erstaunliche, schon fast Monopolstellung des Münchner Unternehmens.

Was das Geld anbelangt: Allein die Film- und Medienstiftung NRW hat sieben Filme gefördert, die 2023 in Cannes präsentiert wurden. An allen waren Kölner Produktionsfirmen beteiligt, zwei davon schafften es in den Wettbewerb: Marco Bellocchios »Rapito« (Match Factory Productions) und Aki Kaurismäkis »Kuolleet lehdet« (Pandora), der den Jurypreis, so etwas wie die Bronzemedaille, verliehen bekam. Der malaysische Film »Tiger Stripes«, ein Koproduktion mit der Firma Weydemann Bros. gewann in den unabhängigen Sektion Semaine de la Critique den Hauptpreis, der sudanesische Film »Goodbye Julia«, eine Koproduktion mit Die Gesellschaft DGS in der wichtigsten Nebensektion Un certain regard den »Prix de la Liberté«. Und in der gleichen Sektion zeichnete die Jury der internationalen Filmkritik den chilenischen Film »Los colonos« aus, eine Koproduktion mit Sutor Kolonko.

2004 war Hans Weingartner mit »Die Fetten Jahre sind vorbei« in den Wettbewerb von Cannes eingeladen, Jan Bonny 2007 mit »Gegenüber« in die Quinzaine des Realisateurs, zwei Filmemacher, die ihr Handwerk an der Kölner Kunsthochschule für Medien gelernt haben. In der mittlerweile in Quinzaine des Cinéastes umbenannten Sektion war dieses Jahr der KHM-Absolvent Faris Alrjoob mit seinem 21-Minüter »The Red Sea Makes Me Wanna Cry« vertreten. Der auf analogem 16mm gedrehte Film folgt einer jungen Deutschen, die auf der Spur ihres verstorbenen Partners nach Jordanien reist, dem Rätsel seines Todes dort aber auch nicht näherkommt. Der visuell bestechende Kurzfilm macht mit seiner elliptischen, atmosphärischen Erzählung gespannt auf die weiteren Filme von Alrjoob. Vielleicht wird er es ja in ein paar Jahren mit seinem ersten Langfilm erneut an die Croisette schaffen.