Basar des Wissens

Viele kennen Open Source nur als Kampfansage an Bill Gates und seinen Konzern Microsoft in Form freier Software. Doch es geht um mehr: gefordert wird ein generell freier Zugriff auf Information, und Information ist alles: Bücher, Lieder, Geld oder auch Gencodes. Klaus Fehling gewährt einen Einblick in die libertäre Philosophie der Open-Source-Community.

Als Richard Stallman 1999 als Gastredner bei einem Kongress zum Thema Open Source auftrat, trug er eine alte Magnetspeicherplatte wie einen Heiligenschein auf dem Kopf und hielt einen tragbaren Computer in der Hand, wie Moses die Tafel mit den zehn Geboten. Aber als er sprach, lauschten alle im Auditorium gespannt den Worten dieses merkwürdigen Freaks.
Richard Stallman spricht gerne über seine Idee, welche die Welt nachhaltig verändert hat: Open Source und freie Software. Vor uns steht der Gründer der Free Software Foundation, einer Art Nachbarschaftshilfe unter Softwareentwicklern und -benutzern: Die beteiligten Experten offenbaren einander den Kern ihrer Entwicklungen, die Programmiersprache-Quelltexte ihrer Programme, und bilden einen schnell wachsenden, gemeinsamen Wissens- und Erfahrungspool.

Kollektive Quellen

Die Idee funktioniert mittlerweile auch außerhalb der Softwarewelt. Ob Technik, Kultur oder Wissenschaft, in vielen Bereichen wird derzeit der Begriff des geistigen Eigentums neu definiert. Künstler, Journalisten und Wissenschaftler veröffentlichen immer häufiger ihre Arbeitsergebnisse unter Lizenzen, die das herkömmliche Copyright neu auslegen oder im radikaleren Fall ganz abschaffen. Die Idee dahinter ist dieselbe, die schon Stallmans Nachbarschaftshilfe zu Grunde lag: Informationen, egal ob DNS-Code oder Klavierpartitur, gehören nicht einer Person allein, sondern der Allgemeinheit.
Das ist besonders für Verlage und Patente sammelnde Industrieunternehmen schwer zu schlucken. Doch Open Source zeichnet sich durch eine besondere Effektivität aus, die ihr zum Erfolg verhilft. In Italien wurde der Roman »Q« des Schriftstellerkollektivs Wu-Ming ein Bestseller, obwohl er unter einer offenen Non-Copyright-Lizenz steht. Dank solcher Open-Content-Lizenzen werden erfolgreich freie Enzyklopädien, Wissensdatenbanken und Wörterbücher im Internet entwickelt. Das immer dichter gewobene WorldWideWeb und die Community der Netzbewohner lassen erstmals solche gemeinsam für die Gemeinschaft geschaffenen Informationen-Pools möglich aber auch nötig werden. Hier hat unter anderem die Dateientauschbörse Napster Fakten geschaffen und wurde deshalb so erbittert durch die Musikindustrie bekämpft. Was mit Napster noch den Reiz des Verbotenen hatte, soll jetzt auf legale Füße gestellt werden.
Seit Beginn des Jahres erschreckt das OpenMusic-Projekt die Musikindustrie mit neuen Konzepten für die Veröffentlichung von Musik. »Stell nicht die Frage, wie du die Leute daran hindern kannst, deine Musik zu hören, ohne zu bezahlen. Frag lieber ›Wie kann ich mit meiner Musik Geld verdienen?‹«, ist auf der Projektwebseite zu lesen. Die OpenMusic-Lizenz erlaubt ausdrücklich jedem das Kopieren und Verbreiten der Werke. Jeder hat das Recht, eine CD mit so lizensierter Musik herzustellen und sie für viel Geld zu verkaufen, ohne die Urheber zu fragen. Allerdings darf er niemandem verbieten, die gleiche Musik auch zu verschenken. Dieses Copyleft soll es den Künstlern leichter machen, ihre Werke unters Volk zu bringen, ohne zuerst einen Vertrag mit einer Plattenfirma oder einem Verlag abschließen zu müssen. Durch Tauschbörsen wie Napster (und dessen unkastrierte Open-Source-Ableger wie OpenNap) kann sich ein Werk allein durch seine Qualität durchsetzen. So sehen das zumindest die Open-Source-Visionäre.
Teilnehmer des »Wizards of OS 2«, dem im Oktober in Berlin abgehaltenen Gipfeltreffen der deutschen Open-Source-Szene, gehen noch viel weiter: Unter dem Schlagwort OpenMoney wird über die Bedeutung des Geldes als freie Quelle diskutiert. »Money is just information«, ist im Manifest des OpenMoney-Projekts zu lesen, »a way we measure what we trade, nothing of value in itself. And we can make it ourselves, to work as a complement to conventional money.« Viel mehr als dieses Manifest gibt es bisher dazu jedoch noch nicht.
OpenDNA-Verfechter fordern, dass die Information des menschlichen Erbguts allen frei zugänglich sein, und vor einem Verschließen der Quellen, etwa durch Patente, geschützt werden müsse. So wie die in der Krebsforschung oft verwendete Zelllinie HeLa, deren Ursprungszellen 1951 der damals 31-jährigen Patientin Henrietta Lack entnommen wurden. Die Patientin ist längst verstorben, aber ihre Zellen leben noch in den Gefrierschränken der Forschungslabors in der ganzen Welt weiter. Werden diese äußerst aggressiv wachsenden Krebszellen aufgetaut, vermehren sie sich innerhalb von sieben Tagen um das 15-fache. Weltweit verwenden Wissenschaftler die unermüdliche Zelllinie in ihren Laboratorien zur Erforschung von Krebskrankheiten.
Die HeLa-Zelllinie ist im Prinzip ein Beispiel für offene Quellen in der Wissenschaft. Jeder darf die darin enthaltenen Informationen verwenden, ob zur Entwicklung eines neuen Krebsmedikaments oder für Stoffwechseluntersuchungen an Geschwulsten. Deshalb sind sie so weit verbreitet. Dass der Benutzung der HeLa-Zellen keine Lizenzen oder Patente im Weg stehen, liegt jedoch nur daran, dass in den fünfziger Jahren noch niemand daran gedacht hat, dass es sich lohnen könnte, eine Zelllinie zu patentieren. Doch schon seit den sechziger Jahren gibt es zahlreiche Patente auf menschliche und tierische Körperzellen. Die Forderung nach freiem Zugang zu Informationen wirkt in unseren Tagen wie ein revolutionärer Gedanke. Doch der Erfolg der freien Software zeigt, dass sich eine solche Idee durchsetzen kann.

OS-Genesis

Open Source ist allerdings, wenn man es genau nimmt, eine alte Idee: In den siebziger Jahren tauschten Computerbenutzer ihre Software so selbstverständlich untereinander wie Kochrezepte. Die Programmierung von Computern war eher ein notwendiges Übel als ein Gewinn bringendes Geschäft und wurde meist von den Anwendern selbst übernommen. Es bot sich an, die Ergebnisse der eigenen Programmiermühen mit anderen zu teilen und in einer für Menschen lesbaren Form, dem in einer Programmiersprache verfassten Quelltext, zur Verfügung zu stellen. Andere konnten aus den Quellen lernen und sie in ihren eigenen Programmen verwenden.
Als zu Beginn der achtziger Jahre die ersten Computerfirmen begannen, aus den Quelltexten ihrer Software ein Betriebsgeheimnis zu machen, war dieser paradiesische Zustand schlagartig vorbei. Plötzlich mussten die Softwarenutzer Lizenzvereinbarungen unterschreiben, die ihnen verboten, Kopien der Software weiterzugeben. Schlimmer noch: Die Anwender einer Software bekamen diese nicht mehr als Quelltext, sonder nur noch in Form von ausführbaren Dateien in unverständlichen binären Codes. Sie mussten sich blind darauf verlassen, dass das Programm so funktionierte, wie sie es brauchten. Das wollte Richard Stallman nicht hinnehmen. 1984 kündigte er seinen Job als Programmierer im Labor für Künstliche Intelligenz am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und gründete die Free Software Foundation.
Stallman wollte ein Betriebssystem entwickeln, das sich mit dem proprietären Unix messen lassen könnte, und es unter der extra dazu entworfenen GNU Public License veröffentlichen. Der Name GNU bedeutet »GNU’s not Unix« (ein auf sich selbst bezogenes Akronym – ein beliebtes Wortspiel unter Computerfreaks). Unter der GNU-
Lizenz, die das Weitergeben und Verändern einer Software ausdrücklich erlaubt, aber verlangt, dass der Quelltext des Programms immer mitgeliefert wird, werden seitdem zahlreiche erfolgreiche Softwareprojekte entwickelt. Das Betriebssystem Linux gehört ebenso dazu, wie die nicht nur unter Grafikprofis beliebte Bildbearbeitungssoftware Gimp. Sogar Tux, das Maskottchen der Linux-Gemeinde, fällt unter die öffentliche Lizenz. Das Bild des drolligen Pinguins wurde hauptsächlich deshalb so schnell weltbekannt, weil jeder es verwenden darf, ohne dafür zahlen oder um Erlaubnis fragen zu müssen. Die Open-Source-Revolution begann also eigentlich nicht mit Software, sondern mit einer Lizenz.
Immer mehr Programmierer machen ihre Software zu Open Source und tauschen sie über das Internet, so auch Matthias Ettrich. 1996 beschloss er, ein benutzerfreundliches grafisches Fenstersystem für Linux entwickeln zu wollen, und stellte sein Projekt, das er KDE (KDE Desktop Environment) nannte, in einem Internet-Diskussionsforum vor. Innerhalb kürzester Zeit fanden sich so viele hoch motivierte Entwickler, die das Projekt vorantrieben, dass weniger als zwei Jahre später eine stabile KDE Version 1.0 vorlag. Heute ist KDE die populärste Benutzeroberfläche auf Linux-Systemen und die Entwickler können sich vor Jobangeboten von Softwarefirmen, Buchverlagen und EDV-Dienstleistern kaum noch retten. Individuelle Kompetenz ist oft gefragter als patentierte Produkte.

Überlegene Methode

Die Entwicklung von Projekten nach der »Basarmethode« (d.h. viele Entwickler arbeiten an den gleichen Quellen und nutzen jeweils die Ergebnisse aller) ist meistens erfolgreicher und schneller als die herkömmliche »Kathedralenmethode« (die Programmierer lassen sich nicht in die Karten gucken und halten ihre Quellen verschlossen). Ein Beispiel: Das Erkennen und Beheben von Sicherheitslücken ist bei Open-Source-Entwicklungen, wie beispielsweise Linux, schneller möglich als bei proprietären Systemen, wie etwa Microsoft Windows. Jeder Programmierer kann einen Fehler im veröffentlichten Quellcode finden und sofort beheben, ohne darauf warten zu müssen, dass man sich in der entsprechenden Entwicklungsabteilung einer Softwarefirma der Sache annimmt.
Trotz häufiger Missverständnisse (»Warum kostet die Linux-Distribution auf sieben CDs mit Handbuch den Betrag X? Ich dachte, Linux sei freie Software?«), nutzen immer mehr Menschen wie selbstverständlich die Ergebnisse der Basarmethode und sind auch bereit für entsprechende Dienstleistungen, wie das Zusammenstellen einer Distribution, Geld zu bezahlen. Spätestens seit der Bundeswirtschaftsminister den Einsatz von Open-Source-Software in mittelständischen Unternehmen empfiehlt, ist sichtbar, dass die Revolution in erster Linie eine wirtschaftliche ist. Der Erfolg von Projekten wie Linux und vor allem die Tatsache, dass sich das Konzept gut in die Marktgesellschaft integrieren lässt, hat Richard Stallmans nahe liegender Idee zum Sieg verholfen. Dass man mit der Basarmethode oftmals (wenn auch längst nicht immer) schneller und besser zum Ziel kommt, ist für viele ausschlaggebender als die Philosophie, die hinter dem Begriff Open-Source steht.
Ob Ideen wie OpenMusic, OpenDNA oder sogar OpenMoney sich durchsetzen werden, hängt von ihrem Nutzen für die Gemeinschaft ab. Open Source ist keine Religion und wird auch nicht die Welt retten. Es ist einfach nur eine fortschrittliche Methode, gemeinsame Ziele zu erreichen. Die oft sehr verkniffenen Verfechter einer hauptsächlich politisch gedachten Open-Source-Bewegung haben wenig gemein mit denen, die sich Open Source für ihre eigenen Zwecke zu Nutze machen. Ganz trennen kann man hier die Auswirkungen auf Technik und Gesellschaft jedoch nicht. Linux-Erfinder Linus Torvalds: »Ich als Vertreter der technischen Seite weiß [...], dass Technologie gar nichts vorantreibt. Die Gesellschaft verändert die Technologie, nicht umgekehrt.«
Hinter Open-Source steckt eine gute Idee, die die Welt bereits nachhaltig verändert hat. Um sie anzuwenden, hilft es, sie zu verstehen. Deshalb ist es trotz aller möglichen Skepsis sinnvoll, dem kauzigen Libertin Richard Stallman bei seinen Auftritten als Sankt iGNUzius zuzuhören.



Literatur:

The Cathedral & the Bazar. Eric Raymond, O\\\'Reilly 2001, 256 S.; 11,95 Pds.: der Hausphilosoph der Community; das Buch entwickelte er aus seinem legendären Vortrag auf dem Linux-Kongress 1997.
Open Sources. Chris DiBona/Sam Ockman, O\\\'Reilly 1999, 288 S., 17,50 Pds.: die Bewegung schreibt selbst; 14 der führenden Open-Source-Vordenker werfen einen Blick in die Zukunft.
Just for Fun. Linus Torvalds/David Diamond, Hanser 2001, 240 S., 39,80 DM: die Geschichte des freien Betriebssystems Linux und seines Erfinders Linus Torvalds, von ihm selbst erzählt.
Kostenlos und überlegen. Peter Wayner, DVA 2001, 356 S., 49,80 DM: eine hintergründige und anekdotenreiche Geschichte der Open-Source-Bewegung.