Zuhören und den Mund nicht halten

Schwester Alexa und Bruder Hermann-Josef sind Obdachlosenseelsorger. Thomas Goebel war mit ihnen auf der Straße.

 

»Bekommst Du etwa Geld dafür, dass Du mit mir sprichst?«, hat ihn mal einer gefragt. »Das ist ja unglaublich, wofür die Kirche Geld ausgibt!« Da wusste er gar nicht, was er antworten sollte, sagt Bruder Hermann-Josef.
Der Franziskanerpater ist Obdachlosenseelsorger in Köln, »Straßenseelsorger«. Er teilt sich die Stelle mit seiner Kollegin, der Franziskanerin Schwester Alexa. Wollte man mit einem Begriff beschreiben, worin ihre Arbeit besteht, könnte man sagen: Da zu sein. Auf der Straße, in den Einrichtungen für Obdachlose, abends bei der Suppenküche auf dem Appellhofplatz.

Gottesdienst und Pfeifentabak

Wenn man mit Bruder Hermann-Josef einen Vormittag lang über die Schildergasse geht, ändert sich der Blick. Der Pater sucht zwischen den Passanten hindurch nach Obdachlosen. Nach Bekannten. Den Bettler vor dem Kaufhaus kennt er, aber das ist keiner, den er anspricht. »Ein Einzelkämpfer. Manche wollen in Ruhe gelassen werden.« Der alte Mann im Rollstuhl weiter vorne freut sich über die Begegnung. Mit beiden Händen und einem Fuß schiebt er sich langsam vorwärts. Seine Jacke war schon mal sauberer. Er wohnt im Severinsviertel, erzählt der Pater später, bekommt eine kleine Rente, fährt jeden Tag zum Betteln ins Zentrum. In tiefstem Kölsch erzählt der Mann, wie er sich mit einer Frau gestritten hat, bis die Polizei kam – und wie die Frau ihm dann Schmerzensgeld zahlen musste, wegen der Beleidigungen. Bruder Hermann-Josef gibt ihm einen Zettel mit Terminen: In der ehemaligen Franziskanerkirche in der Ulrichgasse gibt es Gottesdienste und Bibelstunden. Und Pfeifentabak.
Rolf kommt oft hierher. »Gubbio« heißt die Begegnungsstätte, nach dem Ort bei Assisi, wo Franziskus den Wolf zähmte, indem er ihm zu fressen gab. Rolf begrüßt Schwester Alexa mit einer Umarmung. Als Rolf 15 war, kam er auf die Straße. Heute ist er 38 und lebt in einer Wohnung in Buchheim, seit fünf Jahren schon. »Ich hab’ das Wohnen erst langsam wieder reingekriegt«, sagt Rolf, »da spielte auch Stolz eine Rolle«. In der Ulrichgasse ist Bibelarbeit, wie jeden Mittwochnachmittag. Aber erst mal gibt’s Kaffee, ein paar Weihnachtsplätzchen sind auch noch übrig. Rolf erzählt gern, am liebsten von seinen Auftritten als Stimmungssänger, bei Linus’ Talentprobe im Tanzbrunnen, jeden Sommer.

Mitten in der Szene

In der Bibelarbeit geht es um die heiligen drei Könige, ein Dutzend Leute sind da. Zu den Gottesdiensten kommen manchmal auch Gäste aus dem Viertel. »Das haben wir immer gehofft«, sagt Schwester Alexa. »Wir sind eine Gruppe, und andere kommen von außen dazu. Das kennen die Obdachlosen sonst nur umgekehrt.«
Es wird heftig diskutiert. Über die drei Könige. Über Politik und Politiker, über Gewalt-Gene, über Raffgier und wahre Werte. Und darüber, dass die drei Könige kapiert haben, was der Stern über der Krippe bedeutet hat, obwohl sie von weit weg kamen.
1993 zog Alexa gemeinsam mit zwei anderen Nonnen aus dem Olpener Mutterhaus des Ordens nach Köln. Damals wusste sie noch nicht, was sie hier wollte. Sie lief systematisch durch das Viertel rund um das Kloster in der Victoriastraße. »Vor der Tür der Notschlafstelle gegenüber lagen Drogensüchtige, da musste ich durch – fast mit Panik«. Im Klingelpützpark kam sie ins Gespräch mit Obdachlosen. »Nach vier Wochen war ich mitten in der Szene und wusste: Das ist es.«
Um ihre Stelle musste sie kämpfen. »Vier Jahre war ich frei schaffend tätig«, sagt sie. Bis die Kirche dann endlich zwei halbe Gehälter bezahlte. »Wir sind Schwester und Pater für alles«, sagt Alexa. »Wir können uns den ganzen Tag mit einem Menschen befassen, wenn’s sein muss. Die Leute kommen mit allen Problemen – auch wenn sie eine Decke brauchen. Da habe ich das Glück, dass meine lieben Mitschwestern in Olpe das ganze Jahr stricken.«

Ein Monat Erholung

Seit sieben Jahren arbeiten Alexa und Hermann-Josef zusammen. Sie kennen ihre Leute, erzählen einander, wer wen getroffen hat, dass der große Dunkle mit der Frau wieder mal da war, dass Elsa noch im Krankenhaus ist. Sie haben feste Anlaufstellen, die sie regelmäßig besuchen, dienstags die Caritas, donnerstags das Lobby-Restaurant, zwischendurch die Obdachlosenstationen Gulliver und Oase. Einmal im Monat sind sie im Gefängnis. »Am wichtigsten ist das Zuhören«, sagt Alexa. »Auch wenn wir die Geschichte schon 25 Mal gehört haben.«
Vor zweieinhalb Jahren wurde Schwester Alexa zur Ombudsfrau der Kölner Wohnungslosen gewählt – 510 Wähler beteiligten sich. Als Ombudsfrau sollte sie bei den ständigen Konflikten zwischen Sicherheitsdiensten und Obdachlosen im Hauptbahnhof und in den U-Bahn-Stationen vermitteln. »Die Geschichte ist ein bisschen im Sande verlaufen«, sagt Alexa. Mit Meldebögen sollten die Obdachlosen Übergriffe dokumentieren. »Das hat nicht funktioniert, sofort und genau zu reagieren, das haben sie nicht geschafft.« Die Atmosphäre sei immerhin etwas besser geworden. »Wir reden mit allen Seiten. Ich sage auch den Obdachlosen: Dann dreht halt mal ne Runde zwischendurch, wenn zu viele zusammen im U-Bahnhof sitzen.« Wenn einer andauernd rausfliegt, gibt sie ihm auch mal eine Monatskarte der KVB. Dann kann er in der warmen Bahn oder im U-Bahnhof sitzen. »Das bedeutet einen Monat Erholung.«

Nässe ist schlimmer

13 Jahre macht Schwester Alexa jetzt den Job, ist sie auf der Straße, redet mit den Menschen, besorgt Decken, streitet sich mit Ämtern, der KVB, den Sicherheitssheriffs. Mühsam? »Natürlich ist das mühsam. Das ist auch frustrierend.« Und schon ist sie wieder dabei: »Mir hat einer erzählt, dass er eine Wohnung gefunden hat, die nicht mehr kostet, als das Sozialamt zahlt. Die hat aber mehr als 45 Quadratmeter, und das ist nicht erlaubt.« Alexa haut mit der Hand auf den Klostertisch. »Das kann doch nicht sein, dass der die Wohnung deshalb nicht bekommt«, sagt sie. »Man kann den Mund nicht halten, wenn man weiß, wo der Mist herkommt. Aber die politische Arbeit allein wäre schon ein 24-Stunden-Job. Wir entscheiden uns dann immer für den konkreten Menschen.«
Letzte Anlaufstelle des Tages ist die Suppenküche am Appellhofplatz. Rund fünfzig Menschen warten schon, als der Emmaus-Bus mit dem Essen vorfährt. Achim kommt regelmäßig hierher. Er wohnt draußen, in einem Zelt. »Die Kälte ist nicht so das Problem«, sagt er. Nässe ist schlimmer. »Seit ’79 bin ich unterwegs. Auslöser war ein Streit mit meinem Vater – um ein Auto.« Er lacht ein bisschen. »Ich war 19 und hab’ den Käfer gegen die Leitplanke gesetzt. Und der Idiot hat nur an das Auto gedacht.« Zwischendurch hat er probiert, sesshaft zu werden. Aber das hat ihn unzufrieden und aggressiv gemacht. »Ich kann auch nicht besonders gut mit Geld umgehen, da bin ich ganz ehrlich.«

Bauwagen mit Betreuung

Achim bezieht keine Sozialhilfe, »ich will nicht nach der Pfeife des Staates tanzen«, sagt er. Er verdient sein Geld mit dem Verkauf der Obdachlosenzeitung Bank Extra. Dass der Pater und die Schwester dauernd erzählen, wie schön er in der Christmette Flöte gespielt hat, ist ihm ein bisschen peinlich. Achim ist viel herumgezogen in Deutschland, in Köln will er bleiben. Sein Traum wäre ein Bauwagen, zusammen mit einem Kumpel: »Ich suche händeringend einen Stellplatz.« Genau Schwester Alexas Thema: »Ideal sind kleine Zelt- und Bauwagenplätze mit Betreuung, wo man auch mit der ganzen Unordnung leben kann, oder zusammen mit Kumpels. Wenn die Leute so primitiv wohnen – lasst sie doch, wenn sie niemanden stören.« Aber die Stadt genehmige keine Stellplätze.
Eine Nonne hält Plädoyers für Bauwagenplätze. Komisch? Eher naheliegend, denkt man, wenn man sie reden hört. Und dass sie wohl einfach Recht hat. Und dass man dafür wahrscheinlich lange den Leuten zuhören muss.

Kontakt und Informationen über www.gubbio.de