»Vergewaltigung hat mit unserem Denken über Sex zu tun«

Um die Vergewaltigung von Frauen ranken sich viele Mythen. Damit machen wir es den Opfern schwerer, sagt die Kulturwissen­schaftlerin Mithu M. Sanyal

 

Seit der Reform des Sexualstrafrechts im Sommer gilt dort endlich der Grundsatz »Nein heißt nein«. Schon seit den 1970ern beschäftigen sich Feministinnen mit dem Thema Vergewaltigung. Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens, dass Vergewaltigung ein Verbrechen ist. Warum haben Sie gerade jetzt ein Buch darüber geschrieben?

 


Nach meinem Buch über die Vulva haben mich ständig Leute auf Vergewaltigung angesprochen. Am Anfang hat mich das beinahe wütend gemacht, nach dem Motto: Die Vulva ist nicht dafür da, vergewaltigt zu werden! Aber es gibt da echten Gesprächsbedarf. Die Art, wie wir über Vergewaltigung denken, hat eine Menge mit der Art zu tun, wie wir über Genitalien denken, und damit auch über Sex. Damit meine ich Sexualität und Geschlecht gleichermaßen, also zum Beispiel: Warum denken wir bei Vergewaltigung automatisch
an Männer als Täter und Frauen als Opfer? 

 


Welche Aspekte dieses Themas wurden Ihrer Ansicht nach bisher nicht ausreichend bedacht und diskutiert?

 


Mir ging es darum, überhaupt mal offen und ergebnisoffen darüber nachzudenken. Es gibt bei dem Thema Vergewaltigung — verständlicherweise — viele Denk- und Sprechtabus. Aber Definitionen und Haltungen, die vor 40 Jahren richtig und wichtig gewesen sind, müssen heute nicht mehr unbedingt genauso zutreffen. Und manche davon sind auch wirklich schädlich. 

 

 

Zum Beispiel?

 


Zum Beispiel die Überzeugung, dass eine Vergewaltigung immer und grundsätzlich schrecklichen und unwiederbringlichen Schaden anrichten muss. Nicht kann, sondern muss. Diese Argumentation war in den 1970er Jahren wichtig, damit Vergewaltigung nicht mehr als Kavaliersdelikt banalisiert, sondern als Verbrechen ernst genommen wurde. Heute bedeutet das aber, dass wir ein Vergewaltigungstrauma geradezu erwarten, und damit erschweren wir als Gesellschaft die Heilung der Vergewaltigungsopfer. Auf solche Widersprüche stößt man alle Nase lang, sobald es um Vergewaltigung geht. Dazu gehört auch, dass automatisch davon ausgegangen wird, dass nur Frauen vergewaltigt werden.

 

Sie kritisieren, dass Frauen dazu gebracht wurden, zu glauben und zu empfinden, dass ihr »Kernselbst«, die Essenz ihrer Person, in der Vagina liegt. Aus dem Grunde werde durch eine Vergewaltigung  nicht »nur« ein Teil ihres Körpers, sondern auch ihre ganze Person und Persönlichkeit für immer beschädigt — was lebenslängliche Scham und Selbstverachtung zur Folge haben kann.

 


Es ist historisch so, dass die Ehre der Frau in ihrem Körper verortet wurde, in ihrem Jungfernhäutchen und ihrem Status als ehrbare Ehefrau. Bei Vergewaltigungsprozessen wurde ursprünglich auch diese »geraubte« Ehre der Frau ver-handelt. Das englische Wort »rape« kommt von der Wortwurzel »Raub«. Und in Deutschland wurde noch bis 1974 der Begriff »Notzucht« verwendet, der von »Not«, das heißt Gewalt, und »ziehen«,  das heißt rauben, kommt. Der bedeutet, dass etwas mit Gewalt geraubt wurde. Das ist uns alles nicht mehr bewusst, aber es hat ungeheure Auswirkungen darauf, wie wir über Vergewaltigung sprechen. Und ich wollte diese Stränge sichtbar machen.

 

 

Es geht in Ihrem Buch auch darum, dass Frauen, die vergewaltigt wurden, heute ihr Leben lang als traumatisierte Opfer gesehen werden. Damit sind sie auf ein bestimmtes Schicksal festgelegt. Warum ist es wichtig, das zu hinterfragen?

 



Ich möchte hier nicht missverstanden werden. Ich sage nicht: »Stell dich nicht so an«. Sondern es geht mir darum, dass Menschen selber die Definitionsgewalt haben sollen über das, was ihnen geschieht und wie sie es verarbeiten. Diese Festschreibung auf ein Opfer-sein ist ja eine Entmündigung und Entmächtigung — und weist damit gewisse Ähnlichkeiten zu dem Verbrechen auf, das wir verurteilen. Außerdem hält sie Menschen auch in einem bestimmten Stadium fest. 

 

 

Das widerspricht den Erkenntnissen der Traumaforschung. Man weiß ja inzwischen, dass die Verarbeitung eines Traumas als Prozess mit unterschiedlichen Phasen abläuft.

 


Für Vergewaltigungsopfer kreiert man eine Urszene, die dann alles nicht nur erklärt, sondern auch weiter bestimmt. Doch für die Verarbeitung von Traumata spielt eben nicht nur die initiale Verletzung eine Rolle, sondern vor allem, wie es danach weitergeht. Wie geht das Umfeld damit um? Welche längerfristigen Folgen gibt es — von sexuell übertragbaren Krankheiten bis zu einer Schwangerschaft? Wird die betroffene Person unterstützt oder gesellschaftlicher Ächtung ausgesetzt? Ist sie der Gefahr ausgesetzt, weiterhin vergewaltigt zu werden? Und, und, und...

 

 

Sie betonen immer wieder, wie wichtig es ist, Männer in dieses Thema mit einzubeziehen. Warum?

 



Vergewaltigung ist kein Frauen-thema. Es sind alle Geschlechter daran beteiligt. Und Männer müssen nicht automatisch Täter sein, sie können auch zu Verbündeten werden. Mal ganz davon abgesehen, dass Männer, häufiger als wir denken, selbst Opfer von Vergewaltigung sind. Das widerspricht jedoch unserem Bild von Männlichkeit. Und Transmenschen kommen in den Diskursen über Vergewaltigung noch nicht einmal vor. 

 

 

Mithu Melanie Sanyal arbeitet als Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Journalistin über ender und Feminismus. 2009 erschien von ihr das Buch »Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts«.

 


Just erschienen: »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens« (Edition Nautilus, 224 S., 16 Euro)