StadtRevue Liest

John Wray:

»Das Geheimnis der verlorenen Zeit«

 

Es beginnt mit einem Schenkelklopfer für Literatur-Nerds. Wie einst Marcel Proust verlässt Waldemar Tolliver die Wohnung nicht mehr, um das Geheimnis der verlorenen Zeit zu lösen. Allerdings hat Waldemar auch keine andere Wahl. Wohin er sich in der Wohnung auch begibt: Die Zeit steht still. Waldemar ist in einer der »Chronosphären« gefangen, die sein Großvater Ottokar Gottfriedens Toula zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckt hat, bevor er durch einen Unfall starb. Der Rest ist Geschichte: Albert Einstein formuliert zeitgleich die spezielle Relativitätstheorie, Urgroßvater Ottokar gerät in Vergessenheit und Waldemar muss ein Familiengeheimnis aufdecken, um wieder an die frische Luft zu kommen. Wrays vierter Roman ist eine Familiengeschichte voll mit speku-lativer Wissenschaft, die von ihren Charakteren getragen wird. Sie sind schrullig und detailreich gezeichnet. Waldemars Vater Orson ist ein Science-Fiction-Autor, der einen Roman ohne Zeitangaben verfasst hat und damit eine Sekte der Gleichzeitigkeit begründet hat. Sein Groß-vater Kasper ist ein Physiker mit Bohème-Anschluss in der k.u.k.-Monarchie, bevor er vor dem Wiener Antisemitismus in die USA flieht. Es ist ein Panorama wie in einem Wes-Anderson-Film, nur dass Wray anstatt der Niedlichkeit lieber Anspielungsreichtum gewählt hat. 

 

Rowohlt, 736 S., 26,95 Euro