»Heilige Dreifaltigkeit« (17. Jh.) und Chris Newmans Zyklus »Me in a no-time state«, 1994/95 | © Kolumba, Köln; Foto: Lothar Schnepf

Einzigartigkeit, jetzt

Das Kolumba feiert mit »Me in a no-time state« die Freiheit des Individuums

Nicht nur ein paar Stücke werden verrückt, vielmehr wird für jede Jahrespräsentation das Zumthorwunderhaus — auch nach einem Jahrzehnt ist es eine Freude, sich in diesem speziellen Räumefluss treiben zu lassen — völlig neu eingerichtet. Ein paar alte Bekannte tauchen wieder auf, selten oder bislang nie gezeigte Werke kommen ans Licht, um für ein Jahr Teil der speziellen Hausmischung zu sein, die sich über alle eventuell noch bestehenden Gattungs-, Zeit- und Bewertungsgrenzen hinweg setzt. Stattdessen gibt es augenöffnende thematische Kombinationen und Konfrontationen.

 

»Me in a no-time state — Über das Individuum« lautet das Motto der zehnten Jahrespräsentation. Eine Überschrift, die zunächst von einem Ich in einem zeitlosen Zu­­stand spricht (die Formulierung ist Titel eines Bilderzyklus von Chris Newman). Dann folgt die Konkretisierung, es gehe um den Einzelnen in seiner Einmaligkeit. Durchaus politisch versteht Kolumba sein Eintreten für das Individuum und seine Freiheit, sieht diese bedroht, ohne dass diese Gefährdungen selbst Thema der Ausstellung sind. Wohl aber geht es um Formen, Bedingungen, Erfahrungen von Individualität.

 

Was mit der Überzeitlichkeit gemeint sein könnte, zeigt das kleine, aber zentrale Werk »Vier Gekrönte«. Die aus etwa vierzig Zentimeter hohen Figuren bestehende Gruppe — benannt nach einer alten Märtyrerlegende — besteht aus vier fein gearbeiteten und prächtig farbig gefassten Sandsteinskulpturen, die um 1445 vermutlich von Konrad Kuyn geschaffen wurde. Es sind vier ferne Zeitgenossen, faszinierend lebendig und detailliert gearbeitet, stolze Herren, alle deutlich, fast karikaturhaft in ihren charakterlichen und physiognomischen Eigenarten gezeichnet. Werkzeuge und vornehme Kleidung kennzeichnen sie als Elitehandwerker der Dombauhütte. Sie sind aufeinander bezogen, agieren miteinander, und doch ist jeder für sich in seinem Eigensinn, seinem Selbstbewusstsein, seiner speziellen Verfassung eine Größe für sich. Individualität, das machen diese fabelhaften Vier augenfällig, ist bereits im Mittelalter gelebt und gesehen worden.

 

Zeitgenössischen Gegenstücke diese Gruppe sind die Arbeiten von Kurt Benning (*1945), der die verwickelten Zusammenhänge von Zeit, Geschichte und Lebensgeschichten verfolgt. Ein fast kunstloses, sehr unmittelbares Panorama gegenwärtigen Daseins ist sein Projekt »Videoportraits« (1996–2015), aus dem eine Auswahl von fünfzig auf Monitoren mit Kopfhörer gezeigt wird. In einer statischen Kameraeinstellung, kaum durch Schnitte unterbrochen geben die Portraitierten bis zu einer Stunde lang Auskünfte zur eigenen Person, erzählen, berichten Biografisches. Divers ist die Auswahl der so Vorgestellten ohne repräsentativen Ansprüchen genügen zu wollen. Dafür aber macht sie Facetten des Individuellen deutlich, fächert Normalitäten in der Vielfalt der Einzelfälle auf.

 

Auffallend an dieser zehnten Auswahl ist die Konzentration auf mehr- und vielteilige Werke, auf Serien und Gruppen verwandter Stücke. Ältere Arbeiten, etwa die 56 Kupferstiche der »Lauretanischen Litanei« oder die imposante, abwechselungsreiche Präsentation von Andachtsbildern aus vierhundert Jahren, sind massenhaft hergestellte Objekte, die der privaten, individuellen Glaubenspraxis dienten. Als Selbstgespräch und Selbstvergewisserung lässt sich Martin Assigs (*1959) große Bilderwand mit 94 Blättern aus der Reihe »St.Paul« verstehen, als les- und sichtbarer Ausdruck von Lebensfreude, als Echo tiefer Ängste, als Verortung im weiten Feld möglicher künstlerischer Referenzen. Teilt sich hier Individualität durch Vorlieben und Krisenerfahrungen mit, so verlagert sich bei den zwölf Malereien aus der Gruppe der Marfa-Paintings von Stephan Baumkötter (*1958) die Frage nach dem Individuellen in den Arbeitsprozess. Die in Texas geschaffenen Bilder verdanken sich einem Experiment, das in der möglichst identischen, parallelen Bearbeitung von formatgleichen Leinwänden bestand und zu miteinander verwandten, in Farbigkeit und Zeichnung aber doch klar unterscheidbaren Bildindividuen führte.

 

Ein großes, für vieles, vielleicht allzu vieles passendes thematisches Passepartout könnte der Titel »Über das Individuum« sein. Doch der Ausstellung gelingt es — gerade durch die Diversität des Gezeigten — diesen Leitbegriff immer wieder anders zu beleuchten. Sie bietet eine schlüssige, dichte Abfolge von Werken, die in jeweils eigener Weise zum Thema beitragen und dabei stets noch andere, auch widersprechende Impulse und Möglichkeiten bereithalten. Bei aller Begeisterung lässt sich fragen, warum das Individuelle im zeitgenössischen Feld allein Sache der Generation 50+ sein soll und Künstlerinnen, wenn überhaupt, als Schmuckgestalterinnen vertreten sind. Trotzdem: klüger, schöner, gewinnbringender als für eine dann oft zu nutzende Kolumba-Jahreskarte kann man derzeit zwanzig Euro kaum ausgeben.

 

Kolumba. Kunstmuseum des Erzbistums Köln, Kolumbastr. 4, Mi–Mo 12–17 Uhr, dienstags geschlossen

Werkhefte liegen vor zur Skulpturengruppe »Die vier Gekrönten« und Jannis Kounellis »Tragedia civile« (25 €) sowie zu Kurt Benning (28 €). Als kiloschweres Standardwerk ist »Andachtsbildchen von A bis Z« erschienen (55 €)