Foto: Manfred Wegener

Köln für Einsteiger II

Mit dem Bus ans Ende der Stadt

 

Beten im Industriegebiet

 

Die Linie 121 durchquert die Arbeitersiedlungen und ehemalige Dörfer im Norden

 

Neusser Straße / Gürtel, 9.09 Uhr. Oben braust die Linie 13 über die Hochbahntrasse, unten drängen sich die Autos. An der Bushaltestelle picken Tauben die Reste aus einer McDonald’s-Tüte und lassen sich auch vom einfahrenden Bus nicht stören. Acht Menschen nehmen routiniert Platz in der Linie 121, das Handy oder den Einkaufstrolley in der Hand. Niemand redet oder sucht Blickkontakt.

 

Als der Bus losfährt, habe ich den Satz von Norbert Esser im Hinterkopf: »Der Bus ist nur Zu- und Abbringer zur Bahn«, hatte der Bus-Chef der KVB vor der Fahrt gesagt. Große traditionelle Linien wie im Bahnverkehr gebe es nicht, stattdessen seien die Busse vor allem für die »flexible Feinerschließung der Peripherie« da. Das also liegt vor mir: 69 Minuten Fahrt durch nördliche Randgebiete, zwölf Kilometer Strecke verbunden durch 47 Haltestellen. Dies wird eine Sightseeing-Tour mit viel Beton, Gewerbegebieten, Abstandsgrün und Werken aus dem Kuriositätenkabinett.

 

Nach einem kleinen Schlenker durch Mauenheim kommt gleich das erste Highlight. Der Bus hält an der Haltestelle Geldernstraße / Parkgürtel, dem vielleicht verrücktesten Bauwerk Kölns. Verkehrsplaner hatten damals den Anspruch, möglichst jeder Linie ein eigenes, kreuzungsfreies Gleis zu widmen. Weil hier jedoch bereits die S-Bahnstrecke nach Norden verlief, entschloss man sich, die Hochbahn mit der Linie 13 kurzzeitig zur U-Bahn zur machen. Das Resultat ist ein Bahnhof auf drei Ebenen, ein Labyrinth aus kühn angelegten Überbrückungen und dreispurigem Autoverkehr unter den Bahnbögen. Ende der 1970er Jahre fertiggestellt, ist die Haltestelle das letzte Zeugnis aus der Ära der autogerechten Stadt.

 

Auch in diesem unüberschaubaren Gelände gibt es jedoch Menschen, die sich zurechtfinden und gezielt in unseren Bus einsteigen, bevorzugte Accessoires sind ­diesmal Kinderwagen und Coffee-to-go-Becher. Über die Longericher Straße fahren wir nach Nordwesten, zur Rechten brachliegendes Bahngelände, zur Linken ein frühes Beispiel für Siedlungsbau in Bilderstöckchen: zweistöckige Reihenhäuser, deren Bewohner ihren Gestaltungswillen mit verklinkerten Erkern, von Säulen getragenen Balkönchen oder anderen Vorbauten ausdrücken.

 

Vor dem Heiligenhäuschen, das Bilderstöckchen ­seinen Namen gibt, biegt der Bus links ab, fährt am Jugendzentrum »Lucky’s Haus« und graubraunen Waschbetonplattenbauten vorbei und weiter über die Äußere Kanalstraße ins Gewerbegebiet. Großes Aussteigen an der Robert-Perthel-Straße, wo die Leute ihre Kaffeebecher nach draußen in die aluminiumverkleideten Firmen­häuser tragen. Hier sind »Karosserie- und Lackexperten« ansässig, es werden Schaumstoffe und Kölsch vertrieben. Schon nach einer Viertelstunde wird die Fahrt ermüdend, außer mir ist nur noch der Busfahrer da, und auch er scheint schnell raus zu wollen aus dieser Tristesse. Er drückt ordent­lich aufs Gas. Dabei gibt es seit ein paar Jahren sogar Menschen, die hier im Gewerbegebiet wohnen. 150 Flüchtlinge leben im ehemaligen Katastrophenschutzzentrum an der Robert-Perthel-Straße, weitere 80 am Ortseingang von Longerich, den der Bus inzwischen erreicht hat. Hier steht auch die äthiopisch-orthodoxe Kirche, deren Gottesdiens­te wohl zu den bestbesuchten im Kölner Norden zählen.

 

Dann Longerich: Hier sieht es anders aus als an den anderen Orten auf der Strecke. Es gibt eine Art historischen Ortskern, mit Backsteinhäusern, Dorfplatz und Kirche. Der Metzger hat Möhren untereinander im Angebot. Das wäre eine gute Endstation, denke ich, doch stattdessen steigen hier viele Leute ein — um darüber hinaus ihrem Gesprächspartner am Handy mitzuteilen, sie seien auf dem Weg »in die Stadt«. Ich denke, dass gleich alle in die S-Bahn umsteigen werden, doch die meisten bleiben sitzen. In Lindweiler füllt sich der Bus weiter, und ich begreife, dass mit »Stadt« Chorweiler gemeint sein muss. Dort gehen die Menschen ins City-Center und auf den Wochenmarkt, um anderthalb Stunden später mit gefüllten Einkaufstaschen die Rückfahrt anzutreten, wobei die Taschen jeweils einen eigenen Platz am Fenster beanspruchen werden.

 

Aber zurück zu Lindweiler. Ich beschließe, hier kurz auszusteigen und das aus Wohnsiedlungen der 50er und 60er Jahre bestehende Viertel genauer anzusehen. Im »Zentrum« am Marienberger Hof offeriert ein Friseur Rentner-Haarschnitte für 12 Euro, der »Frischmarkt Saremi« hat eingeschweißten Dorschrogen und kyrillisch beschriftetes, sauer eingelegtes Gemüse im Sortiment. Der von der Diakonie betriebene »Lindweiler Treff«, die einschlägige Anlaufstelle hier im Viertel, macht seine Aushänge zu Schuldnerberatung, Seniorenclub und Spielenachmittag zweisprachig auf Deutsch und Russisch. Viele Leute sind hier nicht unterwegs. Wer was erleben will, fährt lieber nach Chorweiler. Zum Glück sind es von hier aus keine zehn Minuten mehr bis in die »Stadt«.

 

In Chorweiler kommt der Bus zwischen den 70er-Jahre-Betonstelen zu stehen, auf denen die Jobbörse aufragt. Hier hält er fünf Minuten, der Busfahrer und fast alle Fahrgäste wechseln, ein paar AWB-Mitarbeiter steigen ein, draußen sieht man alte Menschen an Rollatoren und junge am Handy herumlaufen, zwei tibetische Mönche suchen den Eingang zur U-Bahn. Pünktlich um 9.50 Uhr zündet der neue Fahrer den Motor und lässt die gelb-braunen Hochhäuser hinter sich. Je weiter der Bus nach Norden fährt, desto angeregter werden die Unterhaltungen. »Und, passt die Jacke?«, fragt ein glatzköpfiger Mann in sein Telefon. »Nicht ... Jo. Schweinehund, ne.«

 

Über die Regattabahn am Fühlinger See geht es weiter nach Feldkassel. Auch hier hat der 70er-Jahre-Größenwahn zugeschlagen, diesmal in der radikalsten Form. Wo bis dato ein Bauerndorf stand, erstreckt sich heute ein Gewerbegebiet. Hier hat die Früh-Brauerei ihren Sitz, der Wurst- und Fleischwarenfabrikant Egetürk — und seit 2008 auch die »DITIB-Zentralmoschee Köln-Chorweiler«, die sich jedoch äußerlich nicht von den Gewerbebauten unterscheidet. Hier beten Muslime aus Chorweiler und Seeberg, und die Linie 121 bringt sie hin.

 

Nach der Schleife durch Feldkassel fährt die 121 an den Fordwerken vorbei, es ist wieder stiller geworden im Bus. An der Endhaltestelle der Linie 12 in Merkenich gibt’s einen letzten größeren Fahrgastwechsel. Im Grün des Wendekreises grast ein dürrer Gaul. Noch neun Minuten bis nach Langel, Endspurt über die Alte Römerstraße. Um uns herum Felder, die nicht weniger wild zusammengewürfelt sind als die Architektur von Nippes, Longerich und Bilderstöckchen. Pferde, Schafe, ein Kürbisfeld, eine Weihnachtsbaumplantage. Als wir durch die Rheindörfer Kasselberg und Rheinkassel fahren, pfeift der Busfahrer leise ein Liedchen. Vom Bus aus hat man einen guten Blick auf das anarchische Durcheinander von Scheunen, Garagen oder Lauben im Ortskern von Langel, bis der Bus am Ende des Dorfes ein letztes Mal abbiegt. Langel, Endstation am Rhein. Der Busfahrer setzt sich neben die Möwen ans Ufer und schaut zu, wie die Fähre nach Leverkusen übersetzt. Ein paar Züge aus der Zigarette müssen reichen, dann fährt die 121 zurück. Die Peripherie will erschlossen werden.