Foto: Manfred Wegener

Köln für Einsteiger III

Mit dem Bus ans Ende der Stadt

Giebeldach und Hochhauspanorama

 

Eine Fahrt mit der Linie 132 entlang der sozialen Spaltung des Kölner Südens

 

Die Fahrt der 132 beginnt elegant. Vom Breslauer Platz biegt sie in den Rheintunnel und verlässt ihn in Richtung Heumarkt. Ab der Severinstraße schlängelt sich der Bus durch die engen Straßen der Südstadt, auf der Bonner Straße fährt er vorbei an einem Geschäft für Nano-Aquaristik, dem beliebtesten Burgerladen Kölns und einem vormittags nicht sonderlich gut gefüllten Café für Frühstücksflocken. Dann beginnt das Niemandsland. Rechts erstreckt sich das Großmarktgelände, links wächst Löwenzahn auf der unbenutzten Haltestelle für die Nord-Süd-Bahn.

 

An der Gaedestraße steige ich das erste Mal aus — als einer von vier Fahrgästen. Zwei haben ihre Haltestelle verpasst, ein anderer entfernt sich schnell. Ich überquere die Bonner Straße, biege nach ein paar hundert Metern rechts ab und befinde mich in einer menschenleeren Gegend: Marienburg um elf Uhr vormittags.

 

»Um diese Uhrzeit sind alle arbeiten«, sagt Götz Gickler. Er selbst ist auch auf der Arbeit, er pflegt die Grünanlagen eines 70er-Jahre-Mehrfamilienhauses. Die Kratzgeräusche seiner Schaufel sind auf der ganzen Straße zu hören. »Marienburg ist eine gediegene Gegend«, erzählt er und stützt sich auf sein Werkzeug. »Hier gibt es einen angenehmen Umgang miteinander, die meisten Bewohner sind gesetzt und haben es nicht nötig, alles zu kontrollieren. Das ist ein Unterschied zu den Neureichen.«

 

In Marienburg gibt sich der Reichtum funktional. Die geparkten Autos sind teuer, aber nicht protzig, den von blickdichten Mauern umgebenen Häusern fehlt das Namensschild. Der Lieferwagen von REWE zieht ebenso seine Runde wie das Auto einer Sicherheitsfirma. Ab der Gründerzeit wurde Marienburg als Villensiedlung gebaut. Die architektonischen Fortschritte der Moderne sind an dem Stadtteil vorbeigegangen, die meisten Häuser präsentieren sich mit Giebeldach und Verzierungen, die wenigen Neubauten bieten Luxussiedlungsarchitektur von der Stange. Aus dem Süden dringen Kinderlärm und eine ­Kirchenorgel. Dort befindet sich die katholische Kirche St. Maria Königin, ein Backsteinbau von Dominikus Böhm mit einem hellen Fenster zur Südseite plus angeschlossenem Kindergarten. Dahinter liegt der Südpark, wo heute ein halbes Dutzend Marienburger ihre Runden drehen.

 

Susana Conceição ist mit einem großen schwarzen Hund unterwegs. Er gehört der fünfköpfigen Familie, bei der sie seit ein paar Jahren als Haushälterin arbeitet. Jeden Morgen fährt sie mit dem Fahrrad vom Barbarossaplatz nach Marienburg — eine Stunde hin und zurück. »Im Bus fahre ich nicht gerne. Es ist eng und man wird leicht krank«, meint sie. Auch Conceição mag Marienburg, im Gegensatz zum Hahnwald, wo sie auch schon gearbeitet hat: »Das ist ein toter Stadtteil.« Seit 22 Jahren wohnt Conceição in Köln. »Ich bin integriert«, sagt sie, lacht und erzählt, wie froh sie ist, in Köln zu leben und nicht in Ostdeutschland. »Ich würde gerne mal nach Dresden, aber Freunde sagen, es sei zu unsicher.« Schließlich rät sie mir, noch beim Kiosk vorbeizugehen. Dann trennen sich unsere Wege. Auf dem Weg zum Kiosk treffe ich einen Jogger: Herrn Degun, einen britisch-asiatischen Ingenieur, der bei Ford arbeitet. Er sitzt auf der Bank und dehnt sich. »Ich komme aus London und wohne dort weiter draußen, weil die Mieten zu hoch sind«, erzählt er und lächelt, als ich ihn auf die Quadratmeterpreise in Marienburg anspreche. Falsche Frage — über Geld spricht man nicht. Ich hole mir am Kiosk einen Kaffee, staune über ein Magazin nur für den Sylt-Urlaub und mache mich dann auf den Weg zur Bushaltestelle Arnoldshöhe. Außer mir steigt niemand ein.

 

Die 132 biegt am Bonner Verteiler ab, durchquert ein Waldstück und überquert den Stau auf der A4 — mit Höchst­geschwindigkeit. Schließlich zeigt mir ein kleines weißes Ortsschild meinen Standort: Rondorf. Mit mir ­verlässt ein Seniorenehepaar den Bus, und ich werde von einem großen Carrera-Logo begrüßt. In einem Ladenlokal im Keller befindet sich das Vereinsheim der Uni-Freunde Köln, deren Hobby Rennen mit Spielzeugautos im Carrera-Universalmaßstab 1:32 sind. Es ist eine Mancave: Gegenüber des Ein­gangs steht ein Pappaufsteller von Michael Schumacher, an der Wand hängt ein Pin-Up-Kalender, leere Bierkästen und Pokale schmücken die Fensterbank.

 

Wo Marienburg seine Großbürgerlichkeit ausstellt, präsentiert Rondorf seine kölsche Kleinbürgerlichkeit. Reihen- und Mehrfamilienhäuser bestimmen das Ortsbild, davor parken Kleinwagen. Die Flaniermeile Rodenkirchener Straße fungiert zugleich als Durchgangs- und Hauptstraße. Und bei Schmitz & Nittenwilm ist gegen Mittag Stoßzeit. Ich kaufe ein belegtes Brötchen und setze mich. Neben mir unterhalten sich drei Rentner über ihren Winter­urlaub. »Ich habe gebucht. Gran Canaria. Mit Germanwings«, sagt einer. »Hauptsache, eine deutsche Fluglinie«, meint seine Nachbarin und zieht an der Zigarette. Alle lachen, ich mag nicht mehr und gehe zur Bushaltestelle. Dort steht eine junge Frau und wartet — auf ihren Partner. »Der soll mich abholen«, sagt sie. »Ich fahre nie Bus.« Mein Bus fährt kurz darauf ein.

 

Es ist viertel vor zwei und in der 132 sitzen die ersten Schüler auf dem Heimweg. Es ist voll, aber leise — Smartphones sei dank. Der Bus fährt durch die Reihenhäuser Rondorfs, die sich hinter hohen, verklinkerten Mauern verstecken als würden sie in Marienburg stehen. Kurz nach dem Ortsausgang zeichnen sich die Hochhäuser des Kölnbergs vor dem Himmel ab. Er ist das Lieblingsghetto Kölns, Star von TV-Berichten sowie eines abendfüllenden Spielfilms. Kurz vor der Haltestelle »Am Kölnberg« deutet eine junge Frau auf eine andere junge Frau mit zwei Hunden, die an der Fußgängerampel steht. »Die beiden kenne ich noch von früher, da waren sie ganz klein«, sagt sie zu ihrem Freund. Der Bus leert sich, ich bleibe sitzen und fahre noch eine Station weiter in den Ortskern von Meschenich. Dort wartet bereits ein Bus, der losfährt, als wir um die Ecke biegen. Für Xenia und Vanessa ist das dumm gelaufen: Sie haben ihren Anschluss verpasst. Wie für fast alle Jugendlichen im Kölner Süden ist auch für die die beiden 14-Jährigen der Bus das wichtigste Fortbewegungsmittel. Jetzt sind sie auf dem Weg nach Immendorf, wo Xenia wohnt. »Meine Eltern lassen mich nach 20 Uhr nicht mehr mit dem Bus fahren«, erzählt sie, nachdem ich sie auf Meschenichs Ruf anspreche. Und Vanessa berichtet, dass sie selbst in Meschenich wohnt — »aber von da drüben am Feld«. Das »Feld« ist ein Kohlrabi-Acker am südwestlichen Rand des Stadtteils. Hier reiht sich Doppelhaushälfte an Doppelhaushälfte, ein weißes Haus besitzt einen roten Giebel und präsentiert das FC-Logo auf der Vorderseite. Auf der Garage sieht man die Silhouette Kölns, darüber steht »Unser Stolz, unsere Heimat, unsere Liebe« in Frakturschrift. Später lese ich, dass der Bewohner an der Hogesa-Demo im Oktober 2014 teilgenommen hat. Im Ortskern treffe ich Maria Schneider, sie ist auf dem Weg zur Sparkasse. »Die soll bald geschlossen werden«, sagt sie. Schneider und ihr Mann sind Rentner, sie wohnen seit 30 Jahren in Meschenich. »Damals waren da, wo die hohen Häuser stehen, noch Felder.« Schneider hat ein zwiespäl­tiges Verhältnis zum Kölnberg. Sie erzählt, wie die Kirchen­gemeinde für die Bewohner gesammelt hat und sagt: »Ohne die Hochhäuser hätten wir keinen Netto und keinen Aldi hier.« Über 4000 der insgesamt 7500 Einwohner Meschenichs wohnen in den Hochhäusern.

 

Einige von ihnen treffe ich vor einem türkischen Imbiss am Rande der Siedlung. Alle Tische sind belegt, auch wenn das Geschäft sicherlich besser laufen würde, wenn die Kauf­­kraft am Kölnberg höher wäre. »Es ist hier wie in einer Familie«, sagt die Besitzerin. Sie kennt ihre Gäste. Bei einem älte­ren türkischen Mann fragt sie, wie es auf dem Amt gelaufen sei, von einem jungen Mädchen verrät sie, dass ihr Sohn in sie verliebt sei. Ich stelle den Gästen Journalistenfragen nach dem Kölnberg und bekomme Journalistenantworten über Müll, der aus dem Fenster geworfen wird, und wie laut die Nachbarn sind. »Schreiben Sie das ruhig mal«, sagt ein Gast, bevor sie sich ihrer Freundin zuwendet und ihr er­zählt, wie schwer es ist, woanders eine Wohnung zu finden.

 

Nach einer halben Stunde verabschiede ich mich und muss nicht lange warten, bis mein Bus kommt, der mich in die Innenstadt zurückbringt Der Bus ist leer, nur ein paar Jugendliche sitzen herum. An der Bödinger Straße füllt es sich, junge Menschen mit Schuluniformen steigen ein: graues Oberteil, schwarze Hose oder ein schwarzer Rock. Die Jungs tragen Undercut, die Mädchen Zöpfe. Und alle präsentieren ihre iPhones. »Toffs« würde man im Englischen sagen. Eine Mutter hat zwei Mädchen von der Schule abgeholt. Jetzt unterhält sie sich mit ihnen im Standard-Englisch der oberen Mittelklasse. An der Kreuzung von Bonner Straße und Bayenthalgürtel steigen sie aus. Armut und Reichtum im Zehn-Minuten-Takt. Das ist die Linie 132.