Niemandes Wahrheit

Wer ist »E«? Brinkmann-Stipendiaten Javier Salinas legt seinen neuen Roman vor

Javier Salinas erzählt in diesem Buch mit dem Titel »E« keine Geschichte. Er weigert sich – und beginnt trotzdem immer wieder damit. Er entwirft Szenerien, schweift ab und lässt den Erzähler sich selbst kommentieren. Wir wissen nicht viel vom Erzähler,
genaugenommen wissen wir gar nichts, wie auch er selbst nicht.
Behauptet er jedenfalls. Er könnte E sein, er wäre manchmal gerne E, er weigert sich, E zu sein. Sein Leben könnte so oder ganz anders verlaufen sein.
Die Hauptfigur entwirft ein Lebensmodell nach dem anderen, in den unterschiedlichsten Ländern, zu den unterschiedlichsten Zeiten. Er lag in den Schützengräben von Verdun, hat sich als irische Durchschnittsfrau dazu entschieden, Buddhistin zu werden, reiste als arroganter russischer Komponist durch die Kälte, aalte sich in seiner norwegischen Badewanne. Es kann auch sein, dass der Erzähler in einer Psychiatrischen Anstalt liegt und wie Stiller aus seinem Gefängnisfenster nach draußen schaut. »Ich bin nicht E«.
So wie seine Mutter durch Europa gereist ist, reist der Erzähler jetzt durch die Länder, die Leben. In einem ganz lockeren Ton, wie nebenbei, streift der Text Krisenherde des 20. Jahrhunderts, stellt existenzielle Fragen und baut zwischendurch immer wieder atmosphärische Szenen auf, die er sofort wieder wegwischt. »E« ist nicht nur ein Buch über die Frage aller Fragen, »Wer bin ich«, sondern auch und vor allem ein Buch über das Erzählen selbst. Es verführt, und macht einem bewusst, dass man verführt wird. Es ist der leichte Ton, von dem man sich gerne locken lässt, und der in Sekundenschnelle ganz trocken und endgültig werden kann. Geschichten werden angerissen, aber nie zu Ende erzählt. »Diese ständigen Verstöße gegen Exposition, Handlung und Auflösung...« heißt es im Text selbst, oder: »Wer ist der Regisseur dieser Farce?«
Der Regisseur dieser Farce ist der in Köln lebende Javier Salinas, 2005 Träger des Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln. In seinem ersten auf Deutsch übersetzten Roman »Die Kinder der Massai« war die Hauptfigur ein fragender Junge, dem die Schwester die Welt erklärte. In »E« gibt es niemanden mehr, der die Wahrheit kennt. »Fassen wir wie folgt zusammen: E’s Geschichte ist die Geschichte eines Menschen, der wissen möchte, was seine Geschichte ist«. Wer wissen möchte, was E’s Geschichte ist, lese dieses Buch. Wer nicht wissen möchte, was E’s Geschichte ist, lese dieses Buch ebenfalls.




Javier Salinas: E. Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen, Ammann Verlag, Zürich 2006, 276 S.,19,90 €.
Lesung: Mi., 8.3., Literaturhaus Köln, Im Mediapark 6, 20 Uhr.