»Aktion Konfetti« — Aktivisten stellen das Schreddern nach, Foto: Dörthe Boxberg

Das große Schreddern

Akten zum NSU-Terror wurden vernichtet. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft erstmals gegen einen Verfassungsschützer

Das große Schreddern begann schon kurz nach der Selbstenttarnung des Neonazi-Terrornetzwerks »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) im November 2011. In vielen Behörden vernichtete man Akten mit Hinweisen zum NSU und seinem Umfeld — ohne Folgen für die Beteiligten. Das aber könnte sich jetzt ändern. »Wir haben Ermittlungen eingeleitet«, bestätigt Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn. Verwahrungsbruch und Urkundenunterdrückung lauten die Vorwürfe. Beschuldigt ist Axel M., ein Referatsleiter im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), der den Decknamen »Lothar Lingen« trug. Er hatte am 11. November 2011 die Verfassungsschutz-Akten über V-Leute in der Thüringer Neonazi-Szene vernichten lassen. Er habe sich gedacht, dass »wenn der quantitative Aspekt, also die Anzahl unserer Quellen im Bereich des THS (Thüringer Heimatschutz) und in Thüringen, nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht«, gab Lingen schon 2014 in einer Befragung durch die Bundesanwaltschaft zu Protokoll.

 

Passiert ist daraufhin nichts. »Die Bundesanwaltschaft hat uns und dem Münchener Gericht verschwiegen, dass Lingen zugegeben hat, die Akten gezielt vernichtet zu haben«, sagt Antonia von der Behrens. Die Anwältin vertritt im Münchener NSU-Prozess Angehörige des Dortmunder NSU-Opfers Mehmet Kubaşık. Erst im September kam bei der Vernehmung Lingens durch den zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags die damalige Befragung ans Tageslicht. »Wir können jetzt sagen, dass die Vernichtung vorsätzlich war«, so Petra Pau, Obfrau der Linksfraktion im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages.

 

Angehörige von Mehmet Kubaşık und ihre Anwälte erstatteten daraufhin am 5. Oktober Anzeige gegen Lingen wegen Urkundenunterdrückung, Verwahrungsbruch und Strafvereitlung. Ein Ermittlungsverfahren leitete die Staatsanwaltschaft Köln aber nicht ein. Ein Anfangsverdacht sei nicht gegeben, hieß es. Doch eine Vernehmung Lingens durch die Staatsanwaltschaft hätte die Verjährung der Aktenvernichtung am 11. November 2011 verhindert. So aber ist die Tat verjährt.

 

Daher bezieht sich jetzt das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Köln auf eine später erfolgte, weitere Aktenvernichtung. Der Hinweis darauf kam von außen.  Ein Journalist hatte die Behörde im November 2016 auf ein Detail aus dem Abschlussbericht des ersten NSU-Ausschusses des Bundestags aufmerksam gemacht: Eine Mitarbeiterin Lingens hatte bei ihrer Befragung erklärt, dass sie »einige Tage« nach der ersten Aktenvernichtung auf eine Akte gestoßen sei, die mit dem Thüringer Heimatschutz in Verbindung standen. Dabei handelte es sich um Berichte und Deckblattmeldungen des V-Manns »Tarif«. Dieser hat im Jahr 2013 in einem Interview für das Magazin Der Spiegel behauptet, er hätte 1998 Hinweise auf den Aufenthaltsort der NSU-Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die schon wegen Sprengstoffdelikten gesucht wurden, an den Verfassungsschutz weitergegeben. Der Verfassungsschutz aber habe abgewiegelt, und das NSU-Trio blieb unbehelligt. Lingen gab seiner Mitarbeiterin nach der ersten Aktenvernichtung nun die Anweisung, auch diese Akte noch zu vernichten. Dabei hatte zuvor die Leitung des Verfassungsschutz verfügt, dass keine Akten über das NSU-Umfeld zur Vernichtung freigegeben seien. Lingen selbst hatte diese Weisung auch in einer E-Mail an seine Mitarbeiter weitergegeben — für Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn ein Hinweis, dass Lingen wissentlich »gegen den Willen der Behörde« gehandelt habe. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun zwar wegen Urkundenunterdrückung und Verwahrungsbruch. Vom Tisch ist aber der Vorwurf der Strafvereitlung, also die Vernichtung von Beweismitteln. »Wir wissen nicht, was in den vernichteten und zum Teil rekonstruierten Akten steht«, sagt Antonia von der Behrens. »Aber wir halten es für möglich, dass es dort Hinweise auf Straftaten gibt, die gezielt vernichtet werden sollten.«

 

Petra Pau betont: »Bislang ist kein einziger Verfassungsschutzmitarbeiter im NSU-Komplex zur Verantwortung gezogen worden. Das ist ein fatales Signal.«  Antonia von der Behrens hält das derzeit einzige Ermittlungsverfahren gegen einen Behördenmitarbeiter im NSU-Komplex trotzdem für einen Erfolg. »Es ist eine Warnung an andere«, sagt die Anwältin. »Bis jetzt hieß es ja immer nur: Es wird befördert. Nun heißt es: Es wird ermittelt.«