»Alle implodieren vor Ideen«

Der Jugendclub des Schauspiel Köln bereitet für Ende April ein neues choreografisches Theaterstück vor

 

Eine »Heilige Raserei« ist die Liebe bei Marcel Proust, ein exaltierter Extremzustand mit komplizierten Gesetzen und Wirkungen. Allein die Sätze, mit denen der französische Romancier sich durch die psychologischen Untiefen der Gefühle windet, sind komplexeste Verfeinerungen des Denkens.

Im Mund heutiger 17-Jähriger, die Proust aus eigenem Antrieb wahrscheinlich eher zehn Jahre später genießen würden, nimmt sich diese Art des Liebens zunächst etwas bizarr aus. Aber ausgerechnet der Jugendclub des Kölner Schauspiels hat sich in seiner jüngsten Vorstellung Prousts großer Gefühlsdenkerei »Eine Liebe von Swann« gewidmet.

»Ich mag es, die Latte sehr hoch zu hängen«, sagt Regisseurin Anja Kolacek. »Es geht darum, dass man an solchen Versuchen wächst. So waghalsig es auch ist.« Seit 2003 leitet die Regisseurin, Choerografin und ausgebildete Tanzpädagogin den Jugendclub, der am Kölner Schauspiel schon Tradition hat und unter ihrer Direktion auch ausdrücklich in Richtung Bewegungstheater geht. So intensiv wie die insgesamt zwanzig jungen Darsteller und Assistenten von Kolaceks Team hat bisher aber wohl kaum eine der Vorgängergruppen gearbeitet: Fünf Nachmittage pro Woche im Schauspielhaus sind seit Mitte Februar und noch bis zum 23. April keine Seltenheit. Dann ist Uraufführung. Denn Proust ist nur eine Art Fingerübung – eine von insgesamt fünf »Plattformen« mit Theater und Tanz, die die Compagnie über sieben Monate hinweg zur Vorbereitung öffentlich präsentiert.

Das Ziel eines siebenmonatigen Vorbereitungsprozesses

Auch das ist neu: In den vergangenen Spielzeiten kam Kolaceks Jugendteam nur für eine einzige Produktion und etwa zwei Monate Probenzeit zusammen. Diese Spielzeit aber gab es diesen siebenmonatigen Vorbereitungsprozess mit regelmäßigen Proben, öffentlichen Lesungen, Performances und Clubnächten. Außer den zwölf Nachwuchsschauspielern arbeiten acht jugendliche Dramaturgie-, Bühnenbild- und Media-Assistenten eng mit den Abteilungen im Haus zusammen. Fast professionelle Bedingungen. »Ich wollte ein Jahr lang mit einer festen Gruppe arbeiten. Da entsteht ein ganz anderes Vertrauen. Und Vertrauen ist für mich die Grundvoraussetzung, um Theater zu machen«, sagt Kolacek. »Die Leute sollen dahin kommen, dass sie in diesem Raum alles geben, was sie haben.«

Schon in der großen Jugendclub-Produktion des letzten Jahres, einem choreografischen Theater um das »Schwanensee«-Thema, hat sie viel mit Texten und Ideen ihrer jugendlichen Darsteller und Teamkollegen gearbeitet. Das soll auch beim neuen Stück so sein. »Leben, Liebe, Glückseligkeit« wird es heißen, »das ist nun mal das Hauptthema in diesem Alter.« Nach dem Nahkampf mit Proustschen Liebeswelten soll dabei am Ende ein Theater entstehen, das Gefühlswelt und Sprache der Darsteller in den Mittelpunkt rückt. Kolacek möchte mit Menschen arbeiten, »die etwas zu erzählen haben.«

Das ist Anja Kolaceks wichtigstes Kriterium auch bei den Castings, in denen sie sie zu Beginn eines Projekts ihr neues Team aus 200 bis 300 Bewerbungen aussiebt. »Meine Aufgabe ist dann, dass die Leute Fantasie lernen und sie auszudrücken lernen. Die haben alle viele Ideen, aber es braucht den Mut, sie herauszulassen. Es geht oft darum, Grenzen zu überschreiten.« Deswegen gibt die Regisseurin gerne jenen Darstellern den meisten Text, die privat am wenigsten reden. »Damit die wachsen, aus sich raus gehen.«

»Die Jugendlichen implodieren vor Ideen«

In den Proben wird viel herumprobiert und gesammelt. Ende Februar, mitten in der Improvisationsphase, hat Kolacek noch kaum einen Schimmer, wie das Abschlussstück im April aussehen wird. Das Ausprobieren will sie so lange und so offen wie möglich gestalten. Sie schätzt die Arbeit mit Jugendlichen auch deshalb, »weil man unverkrustet an die Arbeit herangehen kann. Natürlich kommen die Augenblicke, wo ich die richtigen Impulse geben und das Stück ordnen muss. Alle stehen ja immer da und implodieren vor Ideen. Wollen in alle Richtungen und wissen nicht, wohin. Dieses Potential muss man produktiv umleiten.«

Ästhetisch bleibt Kolacek leider ganz auf einer Linie mit landläufiger Regie-Experimentiererei, etwas manieriert, etwas verkünstelt. Für die jungen Darsteller und Assistenten ist das Projekt trotzdem eine gute Chance, mehr über sich und ihre Liebe zum Theater zu erfahren. »Ich bin hier auf der Suche nach dem, was im Theater möglich ist«, sagt Assistent Philipp Niederlag. »Es geht darum, von sich selbst was rauszufinden und sich für die Zukunft inspirieren zu lassen.«

Philipp hat in der laufenden Saison nicht nur für die Videokunst zu den Plattformen gesorgt, sondern auch an der neuen Website des Jugendclubs gearbeitet. Von den Teilnehmern der letzten Jugendclub-Jahrgänge ist einer inzwischen auf der Schauspielschule, einer arbeitet als Regieassistent und schreibt eigene Stücke. Andere spielen in aktuellen Produktionen am Schauspielhaus. Wieder andere haben einfach nur Tanz oder Theater als Hobby entdeckt. Im Großen und Ganzen ist das wie mit Kolaceks Theaterarbeit: »Wir sind jetzt hier und gucken mal, was passiert. Theater ist einer der wenigen Räume, wo man noch Platz hat, etwas auszuprobieren.«

Premiere: »Leben, Liebe, Glückseligkeit«, Regie/ Choreografie: Anja Kolacek,
22., 23., 25., 26.4., Schlosserei, 20 Uhr.

Plattform No. 4: Filmmaterial aus der
Arbeit des Jugendclubs, Diskussion,
anschließend Clubnacht,
Erfrischungsraum, 8.4., 20 Uhr.