Der Antibürgerliche

Brecht? War früher gar nicht so bekannt, erinnert sich der Kölner Autor und Theatermann André Müller. Ein Interview anlässlich Brechts 50. Todestag am 14. August

Der kürzlich verstorbene Regisseur Benno Besson, in den 50er Jahren Schüler und Mitarbeiter Bertolt Brechts, inszenierte in Rostock ein Stück des Meisters. Es gab fürchterliche Querelen, mit denen der junge Regisseur kaum zu Rande kam. Kurz vor der Premiere besuchte ihn Brecht. »Kann ich Ihnen einen Krach abnehmen?«, fragte er Besson. Der klagte ihm sein Leid mit dem Orchester. Am nächsten Tag kam Brecht zur Probe. Die Musiker spielten professionell und ordnungsgemäß, da sprang Brecht plötzlich auf und brüllte: »Das ist ja grauenhaft! Können Sie keine Noten lesen?« Danach hatte Besson keine Probleme mit den Musikern mehr.

André Müller erzählt diese Anekdote und muss lachen. Er liebt Anekdoten, hat ein paar hundert aufgeschrieben und veröffentlicht, am bekanntesten ist seine mit Gerd Semmer verfasste Sammlung von Brecht-Anekdoten »Geschichten vom Herrn B.«. André Müller ist 81 Jahre alt. Bis vor kurzem unterrichtete er an der Münchener Otto Falckenberg Schule, war Dramaturg u.a. bei Besson, ist Autor von Kinderbüchern, Satiren und Theaterstücken, Shakespeare-Forscher und Kommunist.

StadtRevue: Sie haben mit 30 Brecht kennen gelernt und sind ihm sofort verfallen.

André Müller: Ich war Journalist und schrieb in der Bundesrepublik für linke Blätter. Das Theater hat mich damals nicht interessiert, das änderte sich erst mit Brecht. Brecht hatte einen großen Eindruck auf mich gemacht, das blieb auch über seinen Tod hinaus. Die Schriftsteller Peter Hacks, Heiner Müller, Helmut Baierl und ich wollten Brechts episches Theater fortsetzen. Obwohl – episches sollte es nicht heißen, sondern, ganz im Sinne Brechts, dialektisches Theater. In einem programmatischen Aufsatz, den wir für die DDR-Zeitschrift Theater der Zeit schrieben, kriegte der Setzer aber nicht raus, was Dialektik bedeutet und korrigierte: didaktisches Theater. So bekam das Theater doch noch den Namen, den es eigentlich von Anfang an verdient hatte. (lacht)

Gab es einen Punkt, an dem man sich von Brecht abgesetzt hat?

Die Emanzipation setzte später ein, die kam eigentlich nur daher, dass es die DDR gab. All das, was Brecht an Aufklärung geleistet hatte, wurde einfach dadurch problematisch, dass an jeder Schule der DDR der gleiche Brecht-Stoff gelehrt wurde. Deshalb hat etwa Hacks konsequent eine postrevolutionäre Ästhetik erarbeitet, die gesellschaftliche Wirklichkeit war ja mittlerweile eine andere.

Im Osten musste man sich von Brecht lösen, im Westen ihn überhaupt erst annehmen. In Ihrem ersten Buch »Kreuzzug gegen Brecht« (1962) analysieren sie die westdeutschen Kampagnen gegen den kommunistischen Schriftsteller. Wie kam es schließlich zu seinem Durchmarsch?

Der passierte ziemlich unvermittelt, die Kampagnen und Brecht-Verbote im Westen konnten da übrigens nichts ausrichten. Brecht war bis zu seinem Tod auch bei den Linken der Bundesrepublik nicht sehr bekannt, das war bloß ein Name. Sie müssen bedenken, 1956 war die Welt zu einem Drittel sozialistisch, auch auf deutschem Boden. Es gab diese Alternative, ob man sie wollte oder nicht. Brecht stand für diese Alternative. Es gab ein Bedürfnis, auch einmal die andere Seite kennen zu lernen, und Brecht war unzweifelhaft deren größter Dichter. Man wusste damals nicht, ob man morgen nicht doch im Sozialismus aufwacht, da war es gut, sich schon mal schlau zu machen.

Brecht sollte im Westen doch auch vereinnahmt werden.

Vereinnahmungen gibt es immer, die sind nichts Besonderes. Viele Intendanten und Regisseure im Westen waren von Brechts Werk und seinem ungeheuren Elan angetan, dazu musste man kein Kommunist sein. Und natürlich konsumieren normale Menschen Theater anders als die linken Intellektuellen. Die tragen immer irgendeinen politischen Anspruch ans Theater heran. Aber wenn die Leute ein Stück sehen, interessiert sie das überhaupt nicht. Das Stück soll spannend sein, es soll ihnen Vergnügen bereiten. Das leisten die Arbeiten von Brecht durchaus.

Was macht für Sie das Faszinierende an Brecht aus?

Drei Sachen: Erstens, er war ein außergewöhnlich guter Dichter. Zweitens, seine Methode. Die ist strikt dialektisch und hat heute noch Bestand, im Gegensatz zu bestimmten Einsichten, die ich für falsch halte.

Und zwar?

Brecht hasste alles, was bürgerlich war. Die Schriftstellerin Anna Wiede, die Frau von Hacks, hatte sich gerade einen Pelz aus Kunsthaar gekauft. Brecht bemerkte es und sagte sehr giftig: Sie tragen einen Pelz? Darauf die Wiede: Regen sie sich nicht auf, der ist aus Kunststoff. Und Brecht wiederum: Da werden sie in der nächsten Revolution gerade mal nicht erschossen. Brecht hatte in der Tat einen großen Hass auf das Bürgertum, er hat ihnen die Weltkriege nicht verziehen. Aber man kommt mit diesem Hass nicht weiter, wenn man sich mit Goethe oder Shakespeare auseinandersetzen will. Brecht machte Shakespeare zu einem frühen Bürger, das ist einfach falsch.

Und die dritte Sache?

Sein blitzschneller Humor. Er konnte in Gesprächen auf alles sofort reagieren und jede Situation in Worte fassen. Was er sagen wollte, konnte er immer in ein oder zwei Sätzen zum Ausdruck bringen.

Bücher:
André Müller (mit Gerd Semmer): Geschichten von Herrn B. Gesammelte Brecht-Anekdoten. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2006, 126 S., 9,90 €.

André Müller: Shakespeare verstehen. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2004, 349 S., 19,90 €.

Brecht in Köln:
»Was ein Kind gesagt bekommt« von Bertolt Brecht, Revue für Kinder und Heranwachsende ab 6 J., Theater am Sachsenring, 13.8. (P), 15 und 20.30 Uhr, 19., 20., 26., 27.8., 15 Uhr.