Träumer an die Macht

Mit »Science of Sleep« und »Thumbsucker« beweisen Michel Gondry und Mike Mills, dass Musikvideoregisseure mehr können als wackelige Bilder und schnelle Schnitte

Seit ein paar Jahren verdankt der Spielfilm einige seiner innovativsten Werke Regisseuren, die beim Musikfernsehen in die Schule gegangen sind. Bevor sie ihre ersten Langfilme drehten, konnten sie dort über die Länge eines Popsongs mit neuen Erzählstrukturen und Ausdrucksmöglichkeiten experimentieren.

Neben Spike Jonze, der mit »Being John Malkovich« sein Langfilmdebüt gab, ist der Franzose Michel Gondry unter den Clip-Regisseuren wohl derjenige, der am exzessivsten die filmischen Grenzen des Genres ausgelotet hat. In seinen Videos für die Chemical Brothers oder die White Stripes hat er sich immer wieder mit der Beschaffenheit unserer Wahrnehmung auseinandergesetzt. Die Wirklichkeit besteht bei Gondry aus unzähligen Bruchstücken – ähnlich den Legosteinen im Video zu »Fell In Love With A Girl« –, Bruchstücken, die sich beliebig neu zusammensetzen lassen. Seine Clips wimmeln nur so von optischen Vexierspielen, Zeitschleifen und Fantasiewelten.

Traumwelten

Dieser dekonstruktivistische Erzählansatz findet sich, wie schon in Gondrys letztem Film »Vergiss mein nicht«, auch in seinem neuesten Werk wieder. Als Spielmaterial hat Gondry eine denkbar einfache Ausgangssituation gewählt: Der junge Illustrator Stéphane hat sich in seine Nachbarin verliebt. Bei seinem Versuch, das Herz der Angebeteten zu erobern, verliert er sich immer mehr in seinen eigenen Traumwelten, bis er – und mit ihm der Zu­schauer – Imagination und Realität nicht mehr unterscheiden kann.

Gondry nimmt diese lose Grundidee zum Vorwand, hemmungslos seinen visuellen Obsessionen zu frönen. Es dauert nicht lange und man sehnt sich die organisierende Hand eines Charlie Kaufman herbei, mit dem zusammen Gondry »Vergiss mein nicht« geschrieben hat. Waren dort das Verspielte, die Exaltiertheit der Charaktere und das Surreale stets in den Kontext der Geschichte eingebunden und damit dramaturgisch motiviert, wirken Traum- und Animationssequen­zen im neuen Film häufig wie ausgestellte Zirkusnummern. Das ist hübsch anzusehen, und der Rückgriff auf klassische Filmtricks ist sympathisch. Aber in ihrer Häufung offenbaren Gondrys Taschenspielertricks einen fast schon zwanghaften Hang zur Originalität.

Was den Vorgängerfilm neben seiner aberwitzigen, rückwärts erzählten Dramaturgie zu etwas Besonderem machte, nämlich Gondrys visueller Einfallreichtum, erweist sich in »Science Of Sleep« als Nachteil: Das Visuelle schiebt sich vor Geschichte und Charaktere – so dass Nachvollziehbarkeit von Handlung und Emotionen auf der Strecke bleiben.

»Thumbsucker«

Ein Gegenstück zu Gon­drys hyperaktiver Patchwork-Ästhetik stellt »Thumbsucker« dar, das Spielfilmdebüt von Musik­video­regisseur Mike Mills. Mit ver­haltener Anteilnahme nähert er sich seinem Helden, dem 17-jährigen Justin, einem leicht neurotischen, eigentlich ziemlich nor­malen Teenager – wäre da nicht der merkwürdige Umstand, dass er immer noch am Daumen lutscht.

Justins Kampf mit seinem Daumen und die Suche nach sich selbst schildert Mills mit leisem Humor und einem Gespür für die Zwischentöne im Gefühlsleben seiner Figuren. Was diese wirklich bewegt – gerade wenn es um das Verhältnis zwischen Justin und seinen Eltern geht –, wird selten explizit artikuliert. Zwar sprechen sie über ihre Probleme, doch hat man ständig das Gefühl, dass sie haarscharf am Kern der Dinge vorbei reden – jeder gefangen in seiner eigenen Welt.

Zwischen den Bildern

Das Entschei­dende – die Verstörung, die Trauer, der Schmerz – findet häufig zwischen den Bildern statt, und als Zuschauer bekommt man lediglich die Auswirkungen davon zu sehen. Als habe Mills Scheu, seinen Figuren zu dicht auf die Pelle zu rücken. Schon in seinem Video zu »All I Need« der Gruppe Air zeigte sich der Amerikaner als Meister kontemplativer Zurückhaltung.

Diese elliptische Erzählweise wirkt unspektakulär, fast antidramatisch, aber genau daraus bezieht der Film seine innere Spannung: Unwillkürlich versucht man die Leerstellen in der Erzählung mit seinen eigenen Vorstellungen anzureichern. Besonders deutlich wird dieses Prinzip bei Justins etwas durchgeknalltem Hippie-Zahnarzt, der sich wie der Junge gerade in einer emotionalen Umbruchphase befindet. Über die Gründe dafür erfahren wir nichts, wir sehen ihn lediglich in unterschiedlichen Stadien der Verwirrtheit – was komisch und rätselhaft zugleich ist. Gespielt wird dieser Verzweifelte, der sich selbst abhanden gekommen ist, übrigens von Keanu Reeves, der seine Liste schräger Nebenrollen damit um eine weitere wunderbare darstellerische Miniatur erweitert.

Am Ende von Justins Odyssee durch die Untiefen des Teenagerdaseins entlässt uns Regisseur Mills – wie seinen Helden – in die Welt, ohne uns eine endgültige Antwort auf dessen Problem gegeben zu haben. Denn, so seine schlichte wie beängstigende Erkenntnis: Die gibt es nicht. Und wenn man diese Tatsache besser ertragen kann, indem man am Daumen lutscht, ist das auch in Ordnung.

Science of Sleep (La science des rêves) F 06, R: Michel Gondry, D: Gael García Bernal, Charlotte Gainsbourg, Alain Chabat, 105 Min. Start: 28.9.

Thumbsucker USA 04, R: Mike Mills, D: Lou Taylor Pucci, Tilda Swinton, Vince Vaughn, 96 Min. Start: 5.10.