Woansinn!

Drama: »Winterreise« von Hans Steinbichler

Leinwandfüllend, das ist ein Attribut, das dem Betrachter bereits nach wenigen Minuten einfällt. Nicht nur, weil Joseph Bierbichlers physische Dominanz beeindruckend ist, seine manisch-depressive Figur tobt und brüllt zudem regelmäßig von der Leinwand hinab ins Publikum. Bierbichler spielt Franz Brenninger, einen bayerischen Kleinunternehmer kurz vor dem Bankrott. Das zu einem Zeitpunkt, an dem seine Frau (Hanna Schygulla) dringend Geld für eine Augenoperation benötigt, andernfalls droht sie zu erblinden.

Es gehört zum Wesen vieler psychischer Krankheiten, dass sie oft als solche erst klinisch werden, wenn der Betroffene sie anerkennt. Bierbichlers Brennin­ger tut dies nicht. Er verweigert diese Anerkennung, so sehr sich seine erwachsenen Kinder auch bemühen, ihn in Spezialistenhand zu geben. Stattdessen mobilisiert Brenninger sämtliche Reserven, die ihm noch zur Verfügung stehen, um sprachgewaltig und mit brutaler Rhetorik sein Umfeld anzugreifen und niederzumähen.

»Winterreise«, die zweite gemeinsame Arbeit von Steinbichler und Bierbichler nach »Hierankl«, bezieht sich auf den gleichnamigen Liederzyklus von Franz Schubert. Der handelt von der Einsamkeit des Menschen, die in den Wahnsinn führt und von dort zu Verfall und Tod. Schubert vertonte die trostlosen Gedichte ein Jahr bevor er starb, von der Syphilis bereits schwer angegriffen. Der Film belässt es nicht bei Anlehnungen: Steinbichler lässt Bierbichler Schubert singen, in Afrika, wo der zweite Teil des Films spielt. Hier setzt Brenninger dubiosen keniani­schen Geschäftsleuten nach, die ihn um sein allerletztes Geld geprellt haben. Steinbichler und Bierbichler hätten Bayern allerdings nicht verlassen sollen. Nicht nur, weil nach Brenningers rassistischen Ausfällen zuvor jetzt ein abstoßendes Afrikabild gezeichnet wird. Fast schlimmer noch: Es ist weniger Brenningers Psyche, die nun endgültig auseinander fliegt, es ist der Film. Nach dem imposanten ersten Teil auf vertraut-verschneitem Gelände gehen dem Regisseur nun Bilder und Motive durch, die zunehmend nur noch willkürlich, wirr und platt sind.

Ein Opfer von Bierbichlers Leinwandfülle ist Sibel Kekilli, die dessen Begleiterin spielt. Sie wirkt nicht nur noch schmaler und transparenter also sonst, ihr Spiel ist noch nicht einmal mittelmäßig zu nennen. Vielleicht wäre auch jede andere in dieser Konstellation chancenlos, aber Kekilli spielt erschütternd schlecht. Was den Regisseur nicht weiter anficht, dem es allein um seinen Hauptdarsteller und eine fixe Idee ging.

Winterreise
D 06, R: Hans Steinbichler, D: Josef Bierbichler,
Sibel Kekilli,
Hanna Schygulla, 95 Min. Start: 23.11.