Die Quelle des Parallelstroms

Der 93 Jahre alte portugiesische Regisseur Manoel de Oliveira hat schon wieder einen Film gemacht. »Ich gehe nach Hause« ist ein reifes Alterswerk über das Altern und gleichzeitig ein Film von großer Leichtigkeit. Olaf Möller über den Film und über die Biografie Oliveiras

Es ist schon verrückt, dass ein nun 93 Jahre alter portugiesischer Katholik in der so gott- wie geistlosen kontemporären Filmkultur Kultstatus erlangen konnte. Und dann doch nicht, wie wir sehen werden. Spätestens seit den frühen 90er Jahren – nachdem in den 80ern das nötige filmkritische Fundament gelegt wurde, ist es für eine gewisse Schicht durchaus schick, jedem neuen Film von Manoel de Oliveira entgegenzufiebern und von ihm als einem der Größten des Kinos zu sprechen.
Mit dieser Entwicklung ging (markt)naturgemäß einher, dass seit seiner tolldreist-atemberaubenden Filmoper »Os Canibais / Die Kannibalen« (1988) mit einer schön-erratischen Regelmäßigkeit Filme von Oliveira regulär in die hiesigen Kinos kommen, wie nun sein vorletztes Werk »Vou para casa / Je rentre à la maison/Ich gehe nach Hause« (2001), der vielen als des Meisters zugänglichstes Werk seit langem gilt. Grund genug, sich mit Oliveira, seinem Leben, wie dem Kult um sein Schaffen, eingehend zu beschäftigen.
Fangen wir mit dem offensichtlichsten Grund für den Kult an: Manoel de Oliveiras richtige Kinokarriere begann in einem Alter, wo die allermeisten anderen Filmschaffenden sich entweder aufs Altenteil zurückziehen oder oft einfach schon tot sind. Er war 64 Jahre alt, als er seinen dritten abendfüllenden Spielfilm vollendete und die Wasserscheide seines Œuvres schuf, »O passado e o presente / Vergangenheit und Gegenwart« (1972), mit dem seine kontinuierliche, seit den 90er Jahren regelrecht frenetische Produktionstätigkeit begann. Um das statistisch etwas plastischer zu machen: Seit seinem Debüt mit der stummen, impressionistischen Kurzdokumentation »Douro, faina fluvial / Harte Arbeit am Douro« (1931) hatte Oliveira zwei abendfüllende Spielfilme plus eine Handvoll Kurzfilme realisieren können – seit 1972 vollendete Oliveira 21 abendfüllende Werke plus einige kürzere Arbeiten.
Oliveiras Aufstieg fällt mit dem Zusammenbruch des Estado Novo zusammen. Unter dem salazaristischen Regime war es für Oliveira nahezu unmöglich, Filme finanziert zu bekommen, und das, obwohl zu seinen Förderern Salazars Hausregisseur Antonio Lopes Ribeiro gehörte! Der aufklärerisch-intellektuelle Fabrikantensohn, durch Heirat auch noch Großgrundbesitzer, in seiner Jugend Autorennfahrer, Zirkusartist, international siegreicher Stabhochspringer, und wunderbar singende Gelegenheitsschauspieler Manoel de Oliveira war nicht die Art von Mensch, mit dem sich der Staat Portugal – damals wie heute der wichtigste Faktor für die Filmproduktion des Landes – assoziiert sehen, ergo leisten wollte. Seine Projekte waren zu kantig, zu wenig volkstümelnd, zu suspekt, zu existentialkatholisch... Und ausserdem entstand die portugiesische Produktion jener Zeit primär für den eigenen Markt.
Was sich nach der Nelkenrevolution um 180 Grad wendete. Nun produzierte Portugal eigentlich nur noch für das Ausland: Filme, die das Neue Portugal kulturell repräsentieren sollten. Dank der Umtriebigkeit des schlitzohrigen Produzenten Paulo Branco wurden Oliverias Filme zu perfekten Produkten für den sich in den 80er Jahren immer stärker entwickelnden Kunstkinomarkt Europas. So wurde Manoel de Oliveira zum Aushängeschild einer Produktionskultur, und eines Marktes, was ihn, der sich Zeit seines Lebens als klug kalkulierender Geschäftsmann erwiesen hatte, durchaus amüsieren dürfte.
Filmkritisch fest etabliert wurde Manoel de Oliveira wohl auf der Berlinale 1981 durch eine Retrospektive des Internationalen Forums des Jungen Films, wo sich im Jahr zuvor Oliveiras Schlüsselwerk »Amor de Perdicao/Das Verhängnis der Liebe« zum Kritikererfolg entwickelt hatte. Diese Retrospektive war längst nicht Oliveiras erste, sicherlich aber seine sichtbarste, fand sie doch auf einem der bedeutendsten Filmfestivals der Welt in der zu jener Zeit für Kunstkino einzig entscheidenden Sektion statt. So wurde Oliveira also wettbewerbstauglich, und ward folglich in Berlin nur noch seltenst gesehen, da der dortige Wettbewerb für Oliveiras Kino zu verpöbelt ist, und auch so gut wie nichts mit dem Markt, für den seine Filme entstehen, zu tun hat. Venedig und Cannes nahmen sich seiner an, wo man den Status eines Films, seinen potenziellen Marktwert, sowie seine nähere filmkritische Zukunft schon daran erkennen kann, in welcher Sektion er gezeigt wird, und wo einem der Markt die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Werk erspart. Oliveira ist ein Markenname geworden. Mit dem man eine Art von Nostalgie nach dem verlorenen Paradies des Kinos assoziiert.
So macht man stets viel Gewese darum, dass Oliveira, der grosse alte Herr des Weltkinos, einer der letzten – vielleicht sogar der letzte – lebende und noch arbeitende Filmemacher ist, der sein Schaffen während der Stummfilmzeit begann. Wie vage diese Zuordnung realiter auch sein mag. Oliveiras Kino ist – jenseits seiner so auf- wie abgeklärt katholischen Haltung – wunderbar großbürgerlich in seinem Gestus, von feinsinniger Ironie, klassisch modern in seinem Stil wie seinen gesamtkulturellen Referenzen wie Inspirationen. Damit ist er Lichtjahre entfernt von dem postmodernen Geschredder, das die kontemporäre Filmlandschaft zersetzt. Zu solchen Sätzen bringt viele die Oliveira-Kino-Nostalgie, die auf ihre Weise, durch ein falsches Reklamieren einer utopischen Jugendlichkeit, durch ein dümmliches Polarisieren, dieses Œuvre älter machen als es ist. Dabei hat es eigentlich kein Alter, weil es nie altern konnte, da es nie kontemporär war. Als Oliveira hätte zeitgenössisch sein können, hat er Wein gekeltert, und als er mit seinem Filmschaffen so richtig in die Gänge kam, hatte die Zeit ihn überholt, er war, wie es älteren Herrschaften geschieht, auf einer geistigen Parallelspur gelandet. Man könnte auch böse sagen, viele Menschen betrachteten Oliveira und sein Œuvre wie zwecks Konservierung in Harz gegossen.
»Ich gehe nach Hause« lädt zu solchen Betrachtungen ein. Geht es in Oliveiras neuem Meisterwerk, einer feinst ziselisierten Miniatur und präzisest gebauten Novelle, doch darum, dass einer kein Interesse mehr an der Gegenwart hat – die Gegenwart hingegen schon an ihm. Und darum, dass einer eigentlich bloß seine Ruhe haben, alt sein dürfen will: ein heiter-lichter Film über den Zug der Schatten.
Äußerlich ist alles ruhig in dem Leben des gut gereiften Theaterstars Gilbert Vallence (Michel Piccoli), bis seine geliebte Frau, ihre gemeinsame Tochter, sowie deren Gatte bei einem Autounfall ums Leben kommen, während Vallence Ionescos sterbenden König gibt (eines der vielen Vexierspiele des Films). So bleibt er allein mit seinem Enkel zurück. Das Leben geht weiter, was Vallence irritiert. Er versucht, mit dieser Tatsache, mit dem Weiterleben zurechtzukommen, merkt dabei aber, dass ihn der Tod seiner Lieben aus der Zeit herauskatapultiert hat. Als ihm jemand seine gerade erst erworbenen, handgemacht edlen Schuhe bei einem Überfall klaut, gibt ihm das zu denken: als sollte es für ihn nichts Neues, keinen Neubeginn geben. Und als sein Agent ihm einen hässlichen TV-Zweiteiler andrehen will, weiß er, dass ihm diese Arbeit helfen kann. Und dann weiß man als Zuschauer auch, warum man Oliveira – allem Getue des Kritikestablishments wie des Marktes zum Trotz – wahrlich braucht: zum Trost.
Ich gehe nach Hause (Je rentre a la maison) P / Fr 01, R: Manoel de Oliveira, D: Michel Piccoli, Catherine Deneuve, John Malkovich, 90 Min. Start: 20.12.