Vom Schimpfen und Reimen

Eine parodistische Kriminalgeschichte, eine Krankheitsbeschreibung, eine Untersuchung über Sprache mittels Sprache: »Motherless Brooklyn« von Jonathan Lethem ist ein Roman, dessen Icherzähler am Tourette-Syndrom leidet. Annett Busch über produktive Kurzschlüsse zwischen Synapsen und Genres.

Manch einer mag von Tourette zum ersten Mal vor einigen Monaten gehört haben, als Marshall Matthers alias Eminem in einem Spiegel-Interview erklärte: »Ja, das Tourette-Syndrom muss die Erklärung für mein merkwürdiges Verhalten sein. Schauen Sie, wenn ich im Aufnahmestudio arbeite, dann überkommt es mich. Ich will ›Vögel‹ sagen und ›Bienen‹, stattdessen höre ich aus meinem Mund: Fick, Scheiß, ich erwürge deine Mutter.«
Lionel Essrog hätte demnach ein ähnliches Problem: »Meine Altersgenossen, selbst die unerreichbarsten und schreckenerregendsten schwarzen Mädchen, verstanden instinktiv, was die Lehrer und Dozenten an der Sarah J., im Zuge der Umstände zu einer Art paramilitärischer Einheit abgehärtet, nur schwerfällig begriffen: Mein Verhalten war in keiner Weise eine Teenagerrebellion und aus dem Grund auch uninteressant für andere Teenager. Ich war weder hart drauf, provokativ, kultig, selbstzerstörerisch oder sexy, noch verzapfte ich konterrevolutionäre Sprüche, ich stellte die Autorität nicht in Frage, bekannte in keinerlei Hinsicht Farbe. Ich war einfach nur verrückt.« Lionel Essrog aber, Icherzähler aus »Motherless Brooklyn«, trauernder, obsessiver Irgendwie-Detektiv, hat tatsächlich, was Eminem eher nicht hat: die Krankheit Tourette. Eine Art Synapsen-Fehlverknüpfung im Gehirn, die sich durchaus komplizierter gestaltet und mit
diversen Aufsehen erregenden »Lutsch mich Mister Latz-Gesicht«-Schimpfattacken nur unter anderem zu tun hat.
Ob die reimende Provokation den nicht zu kontrollierenden, krankhaften Anfällen spottet, und wer, wie, woran welche Schmerzen zu erleiden hat – diese Fragen sind auf anderen Ebenen relevant: »Um Sprache soll es gehen«, heißt es in »Motherless Brooklyn«. Um geschriebene, gesprochene, gerappte, hinausgeschriene, unterdrückte, umgedrehte Sprache. Um neuralgische Punkte, die Risse in der »das-sagt-man-nicht«-Oberfläche hinterlassen. Um ein komplexes, sich weit verzweigendes, obsessiv Verbindungen herstellendes Sprach-und Denksystem. Die Koordinaten, krank, gesund, normal, bescheuert, verrückt, geraten da gern mal durcheinander. Wer hält den Mund? Was beschimpft man den Narren, der Wahrheiten ausspricht? Und welche Welt wäre
eine andere, wenn Eminem grüne Wiese auf blauer Himmel reimen würde?
»Motherless Brooklyn« ist alles Mögliche: Krimi, Stadtviertelgeschichte, Liebesgeschichte, Waisen-Adoleszenz-Roman, eine Parodie auf buddhistisch angehauchten Großstadt-Spiritualismus und Sinngesuche, Witze-Fundus, Kain-und-Abel-Parabel. Den roten Faden, die Suche nach dem Mörder von Frank Minna, nutzt Jonathan Lethem weniger dazu, die klassische »wer-wars-denn-nun-Spannung« zu erzeugen, sondern er folgt beim Erzählen dem spezifischen Denk-und Verknüpfungsmodell seiner Hauptperson Lionel: Er bleibt an einer scheinbaren Nebensächlichkeit hängen,
einem Witz, einem Wort, und
folgert daraus unvorhergesehene Schlüsse, entwickelt nebenbei eine sehr persönliche Brooklyn-Topografie, macht nach dem rasanten Intro einen Schnitt, um die Waisenhauskindheit Lionels nachzuschieben, schiebt immer wieder Verweise auf Musik (The-Artist-Formerly-Known-As-Prince), Comics, Sportler dazwischen.
Da Lethem ausschließlich durch Lionels Wahrnehmung erzählt, wird dessen Krankheit nicht zum Thema, sondern zur Selbstverständlichkeit, und die Tic-Situations-Komik evoziert ein Schmunzeln, das mit und nicht über Lionel grinst. Nicht davon zu trennen ist die ständige Reflexion der Reflexion. Lionel nennt sein Verfahren »Meta-Tourette«, ein »Ticplusultra«: » ... die Gedanken ziehen aus, um jedes mögliche Symptom zu fassen. Das Fassen zu fassen. Das Denken zu denken. Das Erwähnen erwähnt Tourette. Es ist, als rede man beim Telefonieren über Telefone oder schriebe Briefe, in denen die Standorte verschiedener Briefkästen genannt werden. Oder als wäre man ein Torpedoboot, dessen Lieblingsanekdote tatsächlich von einem Torpedoboot handelt.«
Nach dem Mord an Frank Minna gerät die Welt für Lionel aus den Fugen. Frank Minna ist eine Figur, die sich mit dem White-Trash-Rapper Eminem auf sprachlich ähnlichem Niveau befinden dürfte, ein nervöser Kleinkrimineller und notorischer Witzeerzähler, stets fluchender Boss und Ersatzvater der »Minna-Men«: vier nicht ganz so helle Jungs, die Frank im Waisenhaus aufgelesen hat und unter dem Decknamen einer Detektei für obskure Transportdienste einspannt. Frank pflegt sein hektisch-fluchendes, cooles Reden als Image, das für Lionel keins sein kann, weil er es nicht unter Kontrolle bekommt. Lionel bleibt immer der Freak. Zwischen den beiden aber besteht ein komplizenhaftes Verständnis und beide werden von einer, wenn auch unterschiedlichen, Einsamkeit umgetrieben. Das Gangster-Leben hat bei Frank leicht paranoide Züge hinterlassen. Er weiß, dass er keinem mehr trauen kann, außer Lionel – weil keiner Lionel traut, da niemand ihn für voll nimmt. Frank ist einer der wenigen, der hinter Lionels Tic-Fassade seine Intelligenz begreift.
Aber bei allem Reden wird letztlich doch nichts gesagt. Lionel weiß von nix, das Unternehmen funktioniert nach dem Prinzip: Tu, was man dir sagt und stell keine Fragen. Die Namen zweier Ober-Mafiosi auszusprechen ist verboten. Erst nach Franks Tod wird Lionel genötigt, seine eigene Unkenntnis wahrzunehmen, beginnt, Fragen zu stellen und nach Franks Mörder zu suchen. In einer Welt, in der der Erfolg einer Strategie, die auf persönliche Bereicherung und Macht ausgerichtet ist, u.a. davon abhängt, im richtigen Moment überzeugend den Mund zu halten und keine Miene zu verziehen, wenn man der Lüge überführt wird, stört unkontrolliertes Reden natürlich sehr. Die Inkarnation von Schweigen und Macht-haben ist Franks Bruder, Gerard, ein zwielichtiger möchtegern Zen-Mönch. Dementsprechend findet auch der Bruderzwist seinen deutlichsten Ausdruck in nur einem Satz: »Du sagst Geduld, ich sag Fuck.« Später wird wiederum Lionel vor Gerard stehen und damit kämpfen, dass zwischen seinem Magen und seinem Sprachorgan eine Menge Wörter grummeln und toben, aus Wut, Verzweiflung, Unsicherheit, Rachegefühlen. Die Sätze und Wortgebilde, die Lionel dann nach draußen schleudert, entlocken dem selbstsicher-stoischen Gesicht Gerards nur ein müdes Lächeln. Die Sympathien sind klar verteilt: aufrechtes Reden vs. verlogenes Schweigen.
Wird Autor Jonathan Lethem, von dem bisher bedauerlicherweise nur vorliegendes Buch übersetzt ist – das allerdings hervorragend –, danach gefragt, was ihn zu seinem Roman inspiriert hätte, meint er: Nein, Touretter hätte er keine gekannt. »I learned about tourette completely through literature«. Essays von Oliver Sacks, ein Dokumentarfilm, »Twitch and Shout« (1993) von Laurel Chiten, danach hätte er begonnen, die Tourette-Symptome mit Facetten seiner eigenen Persönlichkeit und seinem Temperament in Beziehung zu setzen, mit seinen Obsessionen, seinen Ausbrüchen und seinem ewigen Kampf, die Sprache zu kontrollieren – ein klassisches Schriftsteller-Thema, wie er ergänzt. Die Grenzen sind fließend. Die Tourette-Gesellschaft hat Lethem bescheinigt, dass er das Tourette-Universum emotional wohl sehr gut begriffen und beschrieben hätte. Edward Norton (die bessere Hälfte von Brad Pitt aus »Fightclub«) hat sich übrigens bereits die Filmrechte gesichert, arbeitet gerade an einem Drehbuch und wird sich wohl selbst die Hauptrolle zuschreiben. Er könnte durchaus den perfekten Touretter abgeben. Danach werden alle sein wollen wie Edward Norton und Eminem hat ausgedient. Die Gesellschaft und ihre Tics... Der Krankheit des Um-sich-selbst-Drehens hat Lionel eine neue Definition gegeben: »Wie bei Tourette, sind letztendlich alle Verschwörungstheorien solipsistisch. Opfer, Verschwörer oder Theoretiker überschätzen stets ihre zentrale Rolle und sind gefangen in einer traumatischen Freude an Wirkung, Verknüpfung und Kausalität, die auf allen Wegen nur zum Rom des Selbst führt.«
Jonathan Lethem: Motherless Brooklyn. Aus dem Amerikanischen von Michael Zöllner, Tropen Verlag, Köln 2001, 352 S., 38 DM/19,80 EUR.