»Die Retrospektiven werden immer zufälliger«

Köln hat keine Kinemathek, kein Filmmuseum, kein kommunales Kino. Was geht der Stadt dadurch verloren? Ein Gespräch mit dem Filmhistoriker, Restaurator und langjährigen Leiter des Münchner Filmmuseums Enno Patalas

StadtRevue: Reden wir über die Bedeutung von Kinematheken. Beginnen wir von vorne.

Enno Patalas: Es begann in den 20er, 30er Jahren - in Paris mit Henri Langlois und der Cinématèque Française, in London mit dem British Film Institut, in New York beim Museum of Modern Art - mit der einfachen Idee, Filme zu sammeln und zu zeigen, die nicht mehr im Kino waren. Sehr schnell bildeten sich da zwei Tendenzen heraus: Filme sammeln, um sie zu zeigen und Filme sammeln, um sie für die Nachwelt zu sichern. Die beiden großen Gegenspieler waren Henri Langlois in Paris und Ernest Lindgren in London. Zugespitzt konnte man sagen: Langlois hätte lieber die einzige Kopie eines Films ruiniert, als sie nicht zu zeigen, und Lindgren hätte eine rare Kopie nie in den Projektor getan, um sie nicht zu gefährden.

Weil das Filmmaterial damals zu empfindlich war?

Das war noch die Zeit des Nitrofilms, der leicht entflammbar war. Sicherheitsfilm, auf Azetatbasis, war bis in die 40er Jahre nicht im Handel. Bis gegen Ende der 20er gab es nicht einmal Material für Interpositive, das heißt, es konnten überhaupt keine Duplikatnegative gezogen werden. Waren die Originalnegative - meistens wurden zwei oder drei parallel montiert - kaputt, konnten keine weiteren Kopien mehr gezogen werden. In den 30ern gab es Sicherheitsmaterial nur auf Schmalfilm, für das Heimkino. Erst 1950, als es verboten wurde, Nitrofilmkopien herzustellen und zu projizieren und es für die Lagerung Auflagen gab, musste man Negative und Kopien auf Sicherheitsfilm ziehen. Es blieb die Frage: Was macht man mit dem Ausgangsmaterial, den Nitrofilmkopien? Die einen sagten: Man muss sie vernichten, wegen der Feuergefahr. Die anderen: Man muss sie aufheben, dafür geeignete Bunker bauen, weil man nie weiß, ob die Umkopierungen nach heutigen Methoden zu optimalen Ergebnissen führen. Dass das oft nicht der Fall war, zeigte sich zum Beispiel an den Umkopierungen früher Tonfilme, die wegen der anderen Lichttonschrift viel von der ursprünglichen Tonqualität einbüßten.

Wann gab es dann die erste Kinemathek in Deutschland?

Ein Pendant zu Ernest Lindgren in Deutschland war Gerhard Lamprecht, Regisseur und Sammler in Berlin. Er hat seine Sammlung auf 16mm kopiert, so hat ein Teil davon überlebt - der Grundstock der Deutschen Kinemathek, des heutigen Berliner Filmmuseums. Ihm ging es vor allem um die Sicherung der Filme. Ulrich Gregor und andere haben die Freunde der Deutschen Kinemathek und das Kino Arsenal eigens gegründet, um Lamprecht zu nötigen, seine Filme der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Staatliche Gründungen waren das Reichsfilmarchiv - eins der Gründungsmitglieder des internationalen Flmarchivverbandes FIAF - und das Staatliche Filmarchiv der DDR.

Parallel entwickelte sich die Bewegung der Filmclubs.

Das fing in den 20ern an, in Frankreich, auch in England, wo Hitchcock und andere in London die Film Society gründeten, um einerseits alte Filme zeigen zu können, die nicht mehr im Verleih waren, andererseits neue, die nicht importiert oder gar verboten wurden - der »Panzerkreuzer Potemkin« zum Beispiel ist in England und Frankreich nur so bekannt geworden. Die deutsche Zensur war toleranter. Die Filmarchive entwickelten sich teils aus der Filmclubbewegung - Langlois‘ Cinémathèque zum Beispiel -, teils als Ableger etablierter Institutionen, wie die Film Library des New Yorker Museum of Modern Art -, teils als staatliche Institutionen, wie nach dem Kriege die Filmarchive der Ostblockstaaten. Im Westen wurden private Gründungen gelegentlich in staatliche Obhut genommen. In Paris kam es 1968 zum Streit, als André Malraux als Kulturminister die Cinémathèque wohl von Staats wegen sichern, aber Langlois nicht die absolute Herrschaft über die Institution lassen wollte. Filmer und Studenten, Cohn-Bendit ebenso wie Godard, solidarisierten sich mit Langlois - ein Auslöser für die Revolte vom Mai 68. In der Bundesrepublik verlief die Entwicklung mehrgleisig. Für die Verbreitung der unter Goebbels verstaatlichten alten deutschen Filmproduktion wurde 1956 die Friedrich-Wilhelm- Murnau-Stiftung gegründet, die mit der nichtkommerziellen Verbreitung das Filminstitut in Wiesbaden betraute, eine Gründung der Filmwirtschaft. Von Staats wegen kümmerte sich das Bundesarchiv in Koblenz um die Sicherung alter Filme. 1990, als ihr das Staatliche Filmarchiv der DDR zufiel, wurde daraus eine eigene Filmabteilung, die so plötzlich zu einem der wichtigsten Filmarchive der Welt wurde.

Sie haben von 1973 bis 1994 die Filmabteilung im Münchner Stadtmuseum geleitet. Wie kann man sich so eine Arbeit vorstellen? Und worin bestand für Sie der Reiz an dieser Arbeit?

Es war eine Fortsetzung meiner journalistischen Arbeit mit anderen Mitteln. Die Filmgeschichte hatte mich ja immer genauso interessiert wie die Gegenwart. Und im Münchner Stadtmuseum hatte ich die Möglichkeit, Filmgeschichte zu praktizieren. Es war eine andere Form zu publizieren.

Um noch mal auf die verschiedenen Begriffe zurückzukommen: Kinemathek, Filmmuseum, Kommunales Kino - worin besteht der Unterschied?

Lange waren die Filmclubs die einzige Institution, die sich der Verbreitung der alten Filme widmeten. Sie mussten dafür in Kinos gehen, die oft nicht über optimale Voraussetzungen etwa für die Vorführung von Stummfilmen verfügten. Die 1962 geschaffene Filmabteilung der Münchner Stadtmuseums war, genau genommen, das erste kommunale Kino. Das erste, das sich so nannte, war das in Frankfurt, gegründet vom Frankfurter Kulturreferenten Hilmar Hoffmann, das dann eine Welle weiterer Gründungen im Gefolge hatte. Sie flankierten die Entwicklung der Filmarchive. Es ging darum, Orte zu schaffen, an denen die Filminteressierten sich treffen, um die Filme versammeln konnten. Verschiedene kommunale Institutionen entwickelten sich dann weiter, legten sich eigene Filmsammlungen zu, veranstalteten Ausstellungen, fingen an, Archivarbeit zu leisten. Das war der Fall in Frankfurt und in Düsseldorf.

Ihre Arbeit ging später noch einen Schritt weiter...

Auf vieles bin ich erst mit der Zeit gekommen. Als ich in München anfing, wollte ich wohl Filme sammeln, vor allem solche des »Jungen deutschen Films« und Werke der ausländischen Filmgeschichte, weil sich um die in Deutschland kein Archiv kümmerte. So ist es in München zur umfangsreichsten Sammlung des »Jungen deutschen Films« gekommen, aber auch zu einer beachtlichen Sammlung sowjetischer Filme. Dass es nötig war, sich auch um die deutschen »Klassiker« zu kümmern - Fritz Lang, Murnau, Lubitsch usw. - habe ich erst gemerkt, als ich sie zeigen wollte und von unseren Archiven nur mangelhafte Fassungen und Kopien bekam. Dann haben wir angefangen, aus unvollständigen Kopien bestimmter Filme komplettere zusammenzuschneiden, fehlende Zwischentitel zu ergänzen, die ursprüngliche Einstellungsfolge wiederherzustellen, überhaupt von Filmen wie »Caligari«, »Nosferatu«, »Metropolis«, »M« und Dutzenden anderer Fassungen herzustellen, die der Urfassung nahe kamen. Nur schwarzweiß überlieferten Filmen haben wir die Farben wiedergegeben, den Stummfilmen die ursprünglich dazu gespielte Musik, mit dem Ziel sie zu zeigen, nicht nur in München, nicht nur auf Festivals, auch im Fernsehen, und sie auch auf DVD zugänglich zu machen. Zuletzt habe ich das in Berlin mit dem »Panzerkreuzer Potemkin« gemacht.

Wenn ich Sie recht verstanden habe, sehen Sie in einem relativ neuen und gern umstrittenen Medium wie der DVD keine Konkurrenz zum Kino. Wie ließe sich das Nebeneinander noch produktiver gestalten?

Die Gefahr ist doch, dass eine Begegnung mit alten Filmen nur mehr im privaten Rahmen passiert. Viele alte Filme sind auf DVD in besserem Zustand erhältlich als in Filmmuseen und Kinematheken, für die es immer schwerer wird, als es zu meiner Zeit war, gute Kopien zu bekommen. Mir scheint, was es an Retrospektiven zu sehen gibt, wird immer zufälliger, eine systematische Bemühung um Filmgeschichte findet kaum noch statt. Andererseits entwickelt sich eine neue Cinephilie, die sich um teure Erinnerungen, um Lieblings- und Kultfilme rankt. Man müsste die Möglichkeiten von Spielstellen und DVD für einander fruchtbar machen, zusammen mit einer Retrospektive im Kino das dazu passende DVD-Angebot etwa in Form eines Clubs präsentieren. Einen ersten Ansatz könnten die DVD-Produktionen einzelner Filmarchive bilden.



Enno Patalas wurde 1929 geboren. Er studierte Publizistik und Germanistik in Münster. Von 1957 bis 1970 war er Redakteur bei der Zeitschrift Filmkritik. Von 1973 bis 1994 leitete er das Filmmuseum München, dort leistete Pionierarbeit besonders mit der Rekonstruktion von deutschen Stummfilmen. Er gilt als einer der wichtigsten Filmhistoriker und –publizisten Deutschlands. Von 1962 bis zu deren Tod 2002 war er mit der Filmkritikerin und -essayistin Frieda Grafe verheiratet. Seit 2002 betreut Patalas eine zwölfbändige Werkausgabe mit gesammelten Schriften von Frieda Grafe.