German History X

Andreas Veiel und Gesine Schmidt haben mit »Der Kick« den brutalen Mord von Potzlow protokolliert. Harald Demmer inszeniert im Bauturm-Theater eine Kölner Version

Die Fakten machen fassungslos. Am Abend des 13. Juli 2002 treffen sich vier miteinander gut bekannte Jugendliche aus dem Dorf Potzlow in Brandenburg zum gemeinsamen Abhängen. Zuerst trinken sie sich in Stimmung, dann beginnen drei von ihnen brutal auf den vierten einzuschlagen, bis zu dessen Besinnungslosigkeit. Sie tun das während mehrerer Stunden, immer wieder, mit Unterbrechungen. Zum Schluss schleppen sie den Gequälten in einen Schweinestall, zwingen ihn, in die Kante des Futtertroges zu beißen, um ihn dann mit kräftigen Tritten auf den Hinterkopf umzubringen

Unterhaltungen und Aussagen

Man mag sich nach wie vor weigern, diese inzwischen hinlänglich bekannte Tat zu begreifen, aus lauter Abscheu. Das ist verständlich. Vielleicht kann man sie auch gar nicht begreifen. Will man aber wissen, wo und wann so etwas noch einmal droht und was zu tun ist, um es in Zukunft zu verhindern, dann muss man doch nach Gründen und Begleitumständen fragen. Man muss den Ablauf rekonstruieren und nachvollziehen, was die Täter dazu veranlasst hat, so zu handeln.

Der Dokumentarfilmer und Regisseur Andreas Veiel hat zusammen mit Gesine Schmidt mit den Eltern der Täter und des Getöteten, mit Leuten aus dem Bekanntenkreis und dem Dorf gesprochen, oft und lange. Sie haben Gespräche aufgenommen und die Gerichtsprotokolle studiert. Aus dem Material entstand am Berliner Gorki-Theater das dokumentarische Theaterstück »Der Kick« und, mit denselben Schauspielern, die gleichnamige Verfilmung. Darin zitiert werden Marco und Marcel Schönfeld, die beiden Haupttäter, deren Freundinnen und Freunde, der Dorfpfarrer und die Ankläger. Das Stück besteht nur aus Unterhaltungen und Aussagen derer, die am Geschehen beteiligt waren oder die Beteiligten gut kennen, die Tat selbst wird nicht ins Bild gesetzt. Und doch ist es ein Trip an die Ränder des Verstandes.

Offene Fragen als Motivation

Es gibt kaum Kausales, an dem man sich festhalten könnte. Der ältere Bruder ist Nazi, der jüngere ihm hörig. Marinus Schöberl, das Opfer, lenkt nach wiederholter Aufforderung durch die anderen ein und sagt, er sei Jude, woraufhin er die ersten Schläge erhält. Doch das bleibt ein rein äußerlicher Anlass. Oft heißt es in den dokumentierten Gesprächen, er sei eben zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, einen habe es an diesem Abend einfach treffen müssen. Als sei es ein vorgeschriebenes Opferritual gewesen oder eine Naturgewalt, unaufhaltsam. Die Unmengen von Alkohol, die jeden Abend in die Köpfe der Schläger fließen, erklären den Verlust der Hemmschwelle, nicht aber die Brutalität. Und der finale »Kick« auf den Hinterkopf schließlich hat sein Vorbild in einem Film, »American History X«. Aber nichts wäre falscher, als einmal mehr einfach den »schlechten Einfluss der Medien« verantwortlich zu machen.

Aus den von Veiel dokumentierten Gesprächen erfährt man viel über die persönliche Geschichte der Beteiligten und deren Verhältnis zueinander. Man kann Zusammenhänge herstellen und sich den Ablauf des besagten Abends ausmalen. Trotzdem bleiben viele Fragen, die Harald Demmer für seine Produktion am Theater im Bauturm motiviert haben, einen anderen Weg einzuschlagen. In Veiels Inszenierung im Berliner Gorki-Theater und im Film werden sämtliche Rollen abwechselnd von einer Frau und einem Mann eingenommen, so dass man sich als Zuschauer nie in die Figuren einfühlen kann, sondern in jedem Moment daran erinnert wird, dass die Gespräche nur nachgestellt sind. Diese strenge Anordnung will Regisseur Demmer aufbrechen. Es sollen nicht nur zwei, sondern bis zu sieben SchauspielerInnen auftreten.

Jedes Schuldbewusstsein fehlt

Die Besetzung möglichst vieler Rollen helfe, so Demmer, das zu untersuchen, was ihn besonders schockiert habe: dass bei jeder einzelnen Person, die mittelbar oder unmittelbar an den Vorgängen beteiligt war, jedes Schuldbewusstsein fehlt. »In meinen Arbeiten am Bauturm beschäftigen mich ja meistens die verschiedenen Verarbeitungsfor­men von Gewalt und Aggression. In diesem Fall geht es allen vor allem um eines: sich zu verteidigen, Schuld von sich abzuwälzen.«

Die protokollarische Form der Vorlage, die stark an »Die Ermittlung« von Peter Weiss erinnert, wird deshalb in der Kölner Inszenierung sehr viel szenischer umgesetzt werden. Trotz der größeren Zahl der Schauspieler wird es, wie in der Berliner Uraufführung auch, Rollenwechsel geben, so dass im Lauf des Abends verschiedene Akteure aus der Position des Anklägers sprechen. Die räumliche Enge der Bauturm-Bühne begünstigt Demmers Ansatz. Es geht ihm nicht um brecht’sche Distanz, sondern um den genauen Blick auf die einzelnen Charaktere: »Man kann über den bloßen Text hinaus viele Dinge emotional und psychologisch erfahrbar machen. Wir wollen uns während der Proben einiges erspielen und zumindest versuchen nachzuvollziehen und zu verstehen, warum Menschen auf solche Handlungsmuster verfallen.«

Auch die Kölner Version wird, so viel kann man vorab und ohne Wertung sagen, ein vollständiges Begreifen nicht zulassen. Die dramatische Umsetzung des Falles leistet dafür etwas anderes: Sie wirft ein Licht auf das Leben in der deutschen Provinz des 21. Jahrhunderts, in der so etwas geschehen kann und sie erinnert auch nach der Verurteilung der Täter an die Tat. Wenn die Inszenierung gelingt, wird sie mehr über das Schicksal von Marinus Schöberl vermitteln, als es ein sachlicher Zeitungsbericht je könnte.

»Der Kick« von Andreas Veiel und Gesine Schmidt, R: Harald Demmer, Theater im Bauturm, 24. (P), 25.2.,Uhr, weitere Termine im März