One step inside doesn’t mean you understand

Und dieser führt vom klassischen Indierock in die abseitigeren Welten von Elektronik, Jazz und Improvisation. Warum gerade dieser Weg der goldene ist....

Es soll ja Menschen geben, für die es ein Problem ist, mit Indie-Rock alt zu werden. Immer dieselben Posen der Selbstvergessenheit und des koketten Understatements. Die schrabbelnden Gitarren und die ewig gleichen Melodien, die wahlweise das Oeuvre von Neil Young, Lou Reed oder Bob Dylan verwursten. Am liebsten würde man diesen Menschen in ihren immer ein bisschen von gestern wirkenden Klamotten zurufen: »Steht zu eurer Leidenschaft! Andere Leute lesen auch noch immer Christa Wolf, tragen des Nachts alte Frottee-Schlafanzüge oder hören Minimal House, ohne sich dafür zu schämen.« Aber Worte sind bekanntlich nur selten ein wirklicher Trost. Darum hat sich die hiesige Indierock-Fangemeinde in den eklektischen 90er Jahren eine Band ausgedacht, die sie mit der Welt versöhnt. Diese Band heißt Notwist.

Band der (scheinbaren) Paradoxe

Notwist vereinen Rock mit Elektronik und jazziger Improvisation. Sie halten an Bestehendem fest und sind trotzdem Avantgarde. Sie leben in der süddeutschen Provinz und schwingen dennoch im Sound der Metropolen. Sie sind Underground und haben Charterfolge. Eine Band der Paradoxe. Zumindest scheinbar, denn die benannten Widersprüche sind längst keine mehr. Rock hat spätestens seit Grunge jede subversive Sprengkraft verloren. Von der künstlerischen ganz zu schweigen. Das Leben in der Großstadt ist in Zeiten von Internet und Globalisierung weniger denn je Bedingung dafür, am Puls der Zeit zu sein. Der Antagonismus Underground vs. Mainstream lässt sich nicht mehr aufrechterhalten, seit Indie-Labels mit Major-Vertrieben kooperieren und sich in den Charts Britney Spears und Blumfeld, Ferris MC und Destiny’s Child ohne Berührungsängste aneinanderkuscheln.
»Neon Golden« – der Titel des neuen, inzwischen fünften Notwist-Albums ist der perfekte Ausdruck dieses allumfassenden »Sowohl-als-auch«. Er ist ein Eingeständnis, ein Anerkennen der Verhältnisse, aber kein Zeichen vorbehaltloser Akzeptanz. Gleich das erste Stück von »Neon Golden« stellt klar: »One step inside doesn’t mean you understand / One step inside doesn’t mean I’m yours.« Trotzig, beinahe programmatisch wirken diese Zeilen, die Sänger und Gitarrist Markus Acher über programmierte Beats und gestrichene wie gezupfte Saiteninstrumente singt. Zeilen, die einen, umhüllt von der molllastigen Grundstimmung des Songs, zum Nachdenken bringen. Wer hat diesen ersten Schritt gemacht? Wo hinein? Und wer ist es dann, der nicht versteht und nicht meinen soll, dass man ihm nun gehört?

Nicht ins Format passen müssen

»Es geht da um eine ganz klare Absage«, erklärt Markus Acher im Interview. »Wir wollten ganz eindeutig kein Popalbum machen, also uns von diesem Pop-Wahn lossagen, der in letzter Zeit grassiert. Dass alle am schrauben und am feilen sind, nur um auch mal einen Charthit zu landen.« Der Erfolg um jeden Preis ist kein Erfolg. Und das richtige Leben im Falschen gibt es nicht, trotz gegenteiliger Behauptungen. »Oft will Musik es sich und den Leuten, die sie hören, zu einfach machen. Man kreiert viele Images und Formeln und Formen, um dem, was man zu repräsentieren glaubt, zu genügen. Doch wir wollten mit dem Song gleich zu Anfang klarstellen: Wir biedern uns nicht an. Das ist unsere Platte, wenn ihr was damit anfangen könnt, schön, wenn nicht, dann nicht.« Notwist drehen den Spieß um: Nicht sie sind es, die ins Format passen müssen. Sondern die anderen – die Plattenfirmen, die Medienschaffenden und letztlich auch die Fans. Um es mit einer anderen Zeile aus demselben Song zu sagen: »So don’t call me incomplete – you’re the freak.«
Die PlattenkäuferInnnen, die mit dem letzten Notwist-Album »Shrink« (1998) etwas anfangen konnten, werden »Neon Golden« euphorisch begrüßen. Denn »Shrink« war vor drei Jahren der Lackmus-Test für Band und Fans: Wie würden Letztere darauf reagieren, dass sich Notwist, die sich zuvor verlässlich an Hardcore und Alternativ-Sein abgearbeitet haben, nun plötzlich Theremin, Tenorsaxophon und Vibraphon zum Klingen bringen. Dass Samples und Keyboards Einzug halten und aus dem Trio, bestehend aus den Brüdern Markus und Michael Acher sowie dem Drummer Martin Messerschmid, durch Martin Gretschmann alias Console ein Quartett geworden ist? Wie würden sie damit klarkommen, dass ein Semi-Hit wie »Chemicals« nicht nur von einem Schlagzeug, sondern auch von einem britzeligen Beat-Programm begleitet wird? Und dann erst diese Exkursionen in die Welt des Jazz, der Disharmonie und der Improvisation…

Transformation der Hörgewohnheiten

»Shrink« ging trotz der bescheidenen Promotion-Möglichkeiten ihres damaligen Labels Big Store in die Top 50 der deutschen Longplay-Charts. Die Fanbase ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Der neue Sound war nicht nur Ergebnis der musikalischen Erfahrungen, die die Brüder Acher in anderen Bands wie Village Of Savoonga, Potawatomi und vor allem in dem Elektronik-Jazz-Projekt Tied & Tickled Trio gewonnen haben. Er verdankte sich auch den veränderten Hörgewohnheiten ihrer Fans: Obwohl sie dem Postpunk von Notwist die Stange hielten, begannen sie doch, statt schlechter Sub-Pop-Platten Stereolab oder Tortoise zu kaufen, sich mit Aphex Twin zu beschäftigen, statt auf das Comeback von Fugazi zu warten.
Notwist sind das Produkt der Projektionen ihres Fans. Aber: Notwist haben ihrerseits die Fans verändert, und sei es nur dadurch, dass sie in ihre Live-Auftritte Jazz-Bläser intergriert haben. Das nennt man wohl, gemeinsam erwachsen werden.
»Shrink« war ein furioser Befreiungsschlag, ein Album, wo, wie Michael Acher es formuliert, »wir einfach alles zusammengeschmissen haben, was wir gerade geil fanden«. Dagegen präsentiert sich »Neon Golden« homogener, im Sound geschlossener und weitaus songorientierter. »Ich glaube, die neue Platte ist auch deshalb so songmäßig geworden, weil wir gleichzeitig noch das Tied & Tickled-Live-Album produziert haben. Das ist ja nun völlig offen und frei improvisiert. Da wussten wir am Anfang oft nicht, ob ein Stück fünf oder 15 Minuten lang wird. Wir waren dann bei Notwist wieder richtig glücklich, feste Formen zu haben.«

Dub und Blues-Licks

Mit dem Begriff »feste Formen« ist das neue Album nur unzureichend beschrieben. Der Sound oszilliert zwischen Elektronik und Akustik, zwischen Keyboards und Oboe. Der Gesang von Markus Acher ist pointierter und wirkt weniger verhuscht als auf dem Vorgänger. Viele Songs beziehen ihre besondere Note durch den Klang eines bestimmten Instrumentes oder eine hervorstechende Hookline. Ein Banjo-Picking in »Trashing Days«. Ein dubbiger Basslauf in »Pilot«. Ein Blues-Lick im Titelstück »Neon Golden«.
Doch Notwist sind weit davon entfernt, sich in den Oberflächen von Blues oder Reggae eitel zu spiegeln. Dass man dennoch gewillt ist, diese Genrebegriffe bei der Beschreibung der neuen Platte in den Mund zu nehmen, hat mit etwas anderem zu tun. Notwist reflektieren das Prinzip dieser Musik. Sie fragen: Was macht die imaginative Kraft dieser Musik aus, deren repetitive Strukturen so unspektakulär und schlicht wirken?
Die Songs des neuen Albums sind Versuche, Antworten auf diese Frage zu geben. Vermutungen also, Nachforschungen. »Wir hatten im Studio eine Phase, wo wir alte Bluesplatten gehört haben,« erinnert sich Michael Acher. »Man hört sich dann so an, wie da jemand Slide-Gitarre spielt. Und zwar nur Slide-Gitarre, ganz minimal. Nach einer Weile verspürt man auf einmal, wie viel in der Musik mitschwingt. Und dann wird es auf einmal ganz schön modern, obwohl sie aus den 50er oder 60er Jahren stammt.«
So wirkt dieses Notwist-Album im selben Moment archaisch und modern, rückwärts gewandt und in die Zukunft gerichtet. Es hat Geschichte. Der Angestellte im gut sortierten Schallplattenhandel sollte sich vor voreiligen Thesen hüten, wenn ihm demnächst Menschen an der Kasse begegnen, die auf einem Schlag die neue Notwist, King Tubbys Gesamtwerk und irgend etwas von einem gewissen Mississippi Joe McDonald kaufen. Denn auch für die Vertreter dieser Branche gilt: »One step inside doesn’t mean you understand.«

»Neon Golden« erscheint am 14.1.02 bei City Slang/Virgin.

Notwist am 27.1. im Rahmen des Introducing-Festivals in der Live Music Hall (mehr Infos s. Konzerte).