Sylvana Seddig in Iphigenie, inszeniert von Regie-Shootingstar Ersan Mondtag. Foto: Meyer Originals

»Mir fehlt der Schlingensief«

Sylvana Seddig produziert aufregenden Tanz, jetzt wird sie als beste Darstellerin mit dem Kölner Theaterpreis ausgezeichnet

 

»Ich suche nach etwas, das ich als Zuschauer im Theater noch nicht gesehen habe«, sagt Sylvana Seddig. Ein Motto, das die 31-jährige Künstlerin fast zwangsläufig in Grenzbereiche der darstellenden Künste führt. Nicht nur sie setzt sich dabei manchem Risiko aus, auch das Publikum erlebt Situationen, die in Erinnerung bleiben, ob man will oder nicht. So schleckte sie 2011 in ihrer ersten eigenen Soloproduktion »Halbe Sachen« mit der Zunge den Boden vor der Zuschauertribüne ab. Schon damals eine programmatische Geste, die uns an jene Nahtstelle führt, an der gesellschaftliche Konvention auf die Realität des Körpers trifft.

 

Wie selbstverständlich hat die in Köln geborene Deutsch-Griechin das Schubladendenken des Kulturbetriebs gesprengt. In Arnheim erhielt sie ihre Tanzausbildung, stand dann aber als Schauspielerin in Ersan Mondtags »Iphigenie« auf der Bühne des Schauspiels Frankfurt. Denn zu ihren großen Talenten — ungewöhnlich für eine Tänzerin — gehört ihr besonderer Sprachduktus, der sehr präzise ist und zugleich eine distanzierte Künstlichkeit besitzt, mit der sie jedem Wort einen ironischen Schmelz verleiht.

 

Schon früh wusste sie, wohin der Weg gehen muss. Sie wurde Ensemble-Mitglied bei bodytalk, der von Rolf Baumgart und Yoshiko Waki geleiteten Gruppe, die ein Tanztheater in NRW bietet, das sich stets zwei Schritte vor den politischen Ereignissen unserer Tage bewegt. Für sie zerriss Sylvana Seddig in »FrauenBewegung« eine gigantische Rinderleber oder tollte im Auschwitz-Stück »Jewrope« — das den Kölner Tanztheaterpreis gewann — in einem See aus Milch. Von diesem Regie-Duo erhielt sie entscheidende Prägung. »Die beiden waren so etwas wie meine künstlerischen Eltern«, erzählt sie. »Aber ich wollte mich nun weiter entwickeln. Deshalb musste ich den nächsten Schritt tun.« Der führte sie nach Berlin, wo sie in Johann Kresniks »120 Tage von Sodom« an der Volksbühne spielte.

 

Zugleich hat sie ihre eigenen Choreographien entwickelt. »In ihnen treffen relevante gesellschaftliche Themen auf meine Verspieltheit«, sagt sie. Folgerichtig beschäftigt sich ihr letztes Stück »Tanzsylvanien« in einer von Egozentrik beherrschten Welt mit der ihrer eigenen Person. Mit dem Fernsehen findet sie das geeignete Medium, das immer von sich selbst erzählt und unablässig unseren Voyeurismus füttert.

 

Als begnadete Entertainerin erledigt sie die Show alleine, singt, tanzt, moderiert und bewegt sich vor einem imponierenden Bühnenbild aus weißen Luftballons. Aber da geht es schon los. Sie sind so weiß wie Unschuld oder Sperma. Sylvana Seddig treibt uns schnell die kulinarische Dimension des Voyeurismus aus. Die kuschelige Nähe, die das alles verstehende Fernsehen verbreitet, verwandelt sich bald in eine Übernähe, die Angst machen kann. Wie selbstverständlich steuert sie das größte Tabu der abendländischen Kultur an, jenes weibliche Körperteil, das in 2000-jähriger Kulturgeschichte fast nie realistisch dargestellt wurde, ja, für das es nicht einmal einen Namen gab: die Vulva. Die Tänzerin setzt das Publikum dem gynäkologischen Blick aus. Sie zeigt das Fleisch des Körpers, das für einen Moment jede kulturelle Bedeutung, die wir ihm geben, abstreift. »Das geschieht im Kliniklicht, in dem man durchaus auch seine Hässlichkeit sehen soll«, fügt sie hinzu.

 

»Tanzsylvanien« ist ein Stück über das Sehen. Einzigartiges Raffinement verknüpft Bühnengeschehen und digitale Bilder. Die Zuschauer verlieren bald die Orientierung, fragen sich, was sie erleben. Sylvana Seddig ist vor und hinter der Kamera, entscheidet im Bund mit dem Videokünstler Lukas -Zerbst, was das Publikum sieht. »Ich zwinge den Zuschauer in eine Rolle hinein«, sagt sie. So werden wir uns unseres Sehens und unseres archaischen Interesses bewusst, konfrontiert mit dem Realen, dem »Geheimnis«, das keinen Namen haben durfte. »In der Sprache verstecken wir etwas«, sagt ausgerechnet sie, die die Sprache so gut beherrscht. Hier geht sie einen Schritt weiter, dorthin, wo die Worte versiegen und nur noch das Fleisch in seiner Namenlosigkeit existiert.

 

»Ich vergesse die Nacktheit«, die sei für sie nichts weiter als ein Kostüm, erklärt Sylvana Seddig. Für das Publikum war »Tanzsylvanien« eine mediale Lehrstunde, die niemand vergisst, der dabei war. Die nächste wird im Frühjahr mit den Premieren in Köln (Tanzfaktur) und Berlin (Volksbühne) folgen, wenn es dann heißt »Deutsch, gesund, jung — wir haben auch -Probleme«. Diesmal wird sie die Bühne zwei männlichen Darstellern überlassen und sich mit dem Klassenkampf und dem Rechtsruck auseinandersetzen. »Wir beschäftigen uns sehr viel mit sogenannten Randgruppen und zerren sie auf die Bühne, wie etwa Flüchtlinge oder beispielsweise Senioren. Aber wer von diesen Gruppen sitzt denn im Publikum?«, fragt sie.

 

Sylvana Seddig ist überzeugt, dass es genug mit den »gesunden Deutschen« und deren Pathologie zu tun gibt. »Mir fehlt der Schlingensief, der die Rechtsradikalen auf die Bühne holte«, gesteht sie. Radikalität ist für Sylvana Seddig das Ergebnis konsequenten Denkens, für sie gilt es den Finger immer dorthin zu legen, wo es weh tut. 

 

»Deutsch. Gesund. Jung. Wir haben auch Probleme«, C: Sylvana Seddig, 3. (P.), 4.2., Tanzfaktur, 20 Uhr