Unsichtbar Teil II

Unterm Radar

 

Menschen mit nicht-sichtbaren Handicaps prägen die Stadtgesellschaft — auch in Köln. Ein inklusives Miteinander im Alltag ist trotzdem selten. Es fehlt oftmals an Sensibilität, um vorschnelle Urteile zu vermeiden und Offenheit für das Anderssein zu schaffen

 

Das Bild eines Menschen mit Behinderung ist das Bild eines Rollstuhlfahrers. Vor einem halben Jahrhundert hat die dänische Designerin Susanne Koefoed das »Inter-national Symbol of Access« entworfen. Noch heute ist es das offizielle Icon für Barrierefreiheit. Mehr noch: Das weiße Emblem auf blauem Grund lässt viele an einen Rollstuhlfahrer denken, wenn sie nach einem Menschen mit Behinderung gefragt werden. Denn ein Rollstuhlfahrer hat etwas, das ihn nicht nur für die Bildsprache besonders macht: ein sichtbares Handicap.

 

Die Mehrheit der Menschen mit Behinderung hat das nicht. Sie führt ihr Handicap wie ein Geheimnis mit sich. »Es wäre sicherlich sinnvoll, eine Unterscheidung zwischen sichtbaren und nicht-sichtbaren Beeinträchtigungen zu treffen«, sagt Günter Bell, der Behindertenbeauftragte der Stadt Köln. Bislang gebe es diesbezüglich zumeist eine Leerstelle.

  

Gerade im Stadtleben spielen sich in dieser Leerstelle Tag für Tag zahllose Begegnungen ab. Krankheiten wie Multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Tremor, das Asperger-Syndrom oder Gehörlosigkeit schränken Betroffene ein. Und die direkte Konfrontation mit solchen Einschränkungen ruft zumeist nicht Fragen hervor — sondern vorschnelle Antworten. »Menschen mit sichtbaren Behinderungen wird oft Hilfsbereitschaft oder Mitleid entgegen-gebracht. Das geht bis hin zum Blinden, der in eine Straßen-bahn gezogen wird, in die er gar nicht will«, sagt Bell. »Sieht man jemandem seine Beeinträchtigung aber nicht an, hat er nicht selten sogar mit Anfeindungen zu kämpfen.«

 

Dieser Unterschied zwischen sichtbarer und unsichtbarer Behinderung, der für den Umgang im Alltag so erheblich sein kann, kommt in der amtlichen Statistik nicht vor. Sie erfasste Ende 2015 für Köln 89.245 Menschen und damit 8,3 Prozent der Bevölkerung mit einem Schwer-behindertenausweis. Als schwerbehindert gilt laut Sozialgesetzbuch jemand, bei dem ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt, was wiederum durch medizinische Gutachten ermittelt wird. Behindert bedeutet allerdings nicht gleich schwerbehindert. Als behindert nämlich gilt, bei dem die »körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht«. Daraus ergibt sich jeweils ein Anspruch auf einen Schwerbehinderten- oder einen Behindertenausweis. Damit kann man sich etwa von der KFZ-Steuer befreien lassen oder umsonst Busse und Bahnen nutzen. Den Ausweis aber beantragen längst nicht alle Betroffenen. Das Zahlenwerk ist dementsprechend durchaus lückenhaft und vor allem: wenig differenziert.

 

Auf Landesebene sieht das nicht erheblich anders aus, wobei der Bericht der NRW-Landesregierung Anfang 2016 eine erstaunliche Zahl übermittelte: »4,8 Millionen Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein-Westfalen«, heißt es dort. Diese Gruppe setzt sich zusammen aus 2,1 Millio-nen Menschen mit amtlich anerkannter Schwerbehinderung oder Erwerbsminderung sowie mehr als 2,7 Millionen Menschen, die in ihrem täglichen Leben stark oder teilweise eingeschränkt sind. So definiert es die »UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen«. In der Summe ist das jeder dritte Landesbürger. Im Gegensatz dazu meldet die amtliche Behindertenstatistik der IT.NRW 1,8 Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung, zu denen sie eine halbe Million NRW-Bürger hinzurechnet, »die seit mindestens einem halben Jahr durch gesundheitliche Probleme stark eingeschränkt sind«. Danach wären 18 Prozent, fast jeder fünfte Mensch in Nordrhein-Westfalen, behindert.

 

Ihre Beeinträchtigungen sind vielfältig und viele auch nicht sofort für andere zu erkennen; anders als bei jemandem, der einen Blindenstock oder einen Rollstuhl zur Hilfe nimmt. Täglich begegnen wir in der Stadt den unterschied-lichsten Menschen, auf die wir reagieren müssen. Dabei gleichen wir Erscheinung und Verhalten mit unseren bisherigen Erfahrungen ab. Aber gerade diese vermeintliche Menschenkenntnis lässt uns manchmal die falschen Schlüsse ziehen. Wir deuten — aber wir missdeuten zumeist.

 

Im urbanen Alltag kommt es für die Betroffenen immer -wieder zu Aufeinandertreffen, in denen ihre nicht-sichtbaren Behinderungen für Unverständnis und Verärgerung sorgen. Wenn der stattliche, aber an MS erkrankte Mann der Mutter nicht hilft, ihren Kinderwagen die Treppe hochzutragen — weil die Treppe für ihn selbst ein kaum kleineres Hindernis darstellt. Wenn die an Parkinson erkrankte Frau nicht in den Bus einsteigt, der direkt vor ihr hält — weil sie im »Freeze«-Zustand gerade nicht in der Lage ist, sich zielgerichtet zu bewegen. Auch wer mit zitternden Händen eine Flasche Wein kauft, muss kein Alkoholiker sein — sondern vielleicht einfach jemand, der trotz seines Tremors gern ein Glas Wein trinkt. Und der vermeintliche Griesgram mit den hängenden Mundwinkeln, der einen freundlichen Blick nicht erwidert — weil es ihm eine neurologische Erkrankung mit Beteiligung der Hirnnerven nicht ermöglicht.

 

Ein Grund für vorschnelle und falsche Schlüsse ist hier nicht selten die Diskrepanz zwischen dem Alter und den Symptomen der Betroffenen. Ab dem Alter von sechzig Jahren steigt das Risiko sogenannter Alterskrankheiten steil an. Dazu gehört Parkinson, das mit Zittern, Muskelsteifigkeit und verlangsamten Bewegungen einhergehen kann. Von den rund 300.000 Parkinsonkranken in Deutschland sind zehn Prozent bei der Diagnose jünger als 40 Jahre. Es handelt sich um Menschen, die mitten im Erwerbsleben stehen, vielleicht Kinder haben. Ihre Krankheitssymptome, die bei alten Menschen nicht als außergewöhnlich wahrgenommen würden, führen regelmäßig zu Missverständnissen: ein schwankender Gang, scheinbar unmotiviertes Flüstern, die Vermeidung von Blickkontakt. Wer derart eingeschränkt ist, entwickelt Strategien, um damit umzugehen — mit der Krankheit und mit seiner Wirkung auf andere. Manche möchten ihrem Umfeld durch ein deutliches Zeichen einen Hinweis darauf geben; etwa durch einen Gehstock oder eine Blindenbinde. Einige gehen noch aktiver vor: Sie verteilen etwa Visitenkarten, wenn hinter ihnen Menschen in der Schlange warten. Wieder andere tragen selbstironische T-Shirts, um sich zu erkennen zu geben und sich Ärger zu ersparen: »I’m not getting jiggy. I have Parkinson’s«. Spricht man mit Betroffenen, berichten sie überwiegend von positiven Erfahrungen: Die meisten Menschen reagieren freundlich und hilfsbereit. Viel häufiger aber kommt es dazu erst gar nicht. Angst, Scham und Tabuisierung verhindern einen offenen und vor allem offensiven Umgang mit dem Handicap.

 

Um den geht es auch an ganz anderer Stelle: im Alltag der Kölner Polizei. Auch sie stößt immer wieder auf unsichtbare Behinderungen. »Einer der häufigsten Fälle ist die Begegnung mit Demenzerkrankten, die aufgrund von Desorientierung im Straßenbild auffallen«, sagt Polizeisprecher Christoph Schulte. »Eine der obersten Prioritäten ist — neben dem Prinzip der Deeskalation — eine Sensibilisierung und Offenheit auf Seiten der Kolleginnen und Kollegen im Einsatz.« Die Polizei sei sich bewusst, erklärt Schulte, dass es gelte, Verhalten ergebnisoffen zu hinterfragen, um an die tatsächlichen Ursachen zu gelangen. Er betont aber auch, dass das nicht immer gleichermaßen einfach sei. Eine Schwierigkeit sei etwa bei Demenz-kranken die erschwerte Kommunikation durch zum Teil aggressive Reaktionen gegenüber den Beamten, berichtet Schulte. Darauf sind die Einsatzkräfte aber durchaus vorbereitet: Mit Informationsmaterialien oder in Weiterbildungen werden sie gezielt für die Kommunikation mit Demenzkranken geschult. »Und diese spezifischen Angebote werden erfreulicherweise in sehr hohem Maße genutzt«, sagt der Polizeisprecher. Er erinnert sich zudem an einen typischen Fall aus seiner Zeit im Streifendienst: Anwohner hatten einen offenbar alkoholisierten Mann in ihrem Hausflur gemeldet. »Als wir vor Ort ein-trafen, war die Verständigung aufgrund fehlender Deutschkenntnisse schwierig, vor allem schien der Mann stark des-orientiert zu sein«, so Schulte. Die erste Annahme: Alkohol-einwirkung. Denn die war deutlich wahrnehmbar. Die tat-säch-liche Ursache stellte allerdings erst der Rettungsdienst fest, der zum Einsatz mit hinzugezogen wurde: Der Mann war Diabetiker, durch den Alkoholkonsum waren seine Blutzucker-werte völlig durcheinander geraten. Vergleichbar verlaufen nicht selten Einsätze, bei denen die Beamten wegen Lärmbelästigung ausrücken. Das erste, was einem in den Sinn komme, sagt Schulte, sei häusliche Gewalt oder Alkoholmissbrauch. »Und dann stellt man manchmal fest, dass bei der betroffenen Person ein Tourette-Syndrom vorliegt.« Auch hier seien die Zusammenarbeit und der Austausch mit dem Rettungsdienst bedeutend, und manchmal kennen die Beamten bestimmte Personen schlicht schon durch frühere Einsätze. »Umfassende Aufklärungsarbeit leisten, Sensibilisierung erzielen und Offenheit schaffen — das ist unser internes Anliegen«, fasst Schulte die Zielsetzung der Kölner Polizei zusammen.

 

Dem Thema offen begegnen möchte auch die KVB. »Menschen im Blick zu haben, die in irgendeiner Form mobilitäts- oder anderweitig eingeschränkt sind, ist die gemeinsame Aufgabe von KVB und Stadt Köln«, verkündet KVB-Sprecher Matthias Pesch. Zuvorderst hat die KVB dabei die Stufenlosigkeit der Stadtbahn-Haltestellen im Blick. Die ist nach Auskunft von Pesch bislang bei 90 Prozent aller Haltepunkte gegeben — allerdings noch nicht an allen Knotenpunkten. Der Friesen- und Barbarossaplatz etwa fehlen bislang. Das werde sich in den nächsten Jahren ändern — und das muss es auch. Das Personenbeförderungsgesetz schreibt vor, dass zum 1. Januar 2022 alle Anlagen des ÖPNV barrierefrei sein müssen.

 

Dem Gehörlosen, der die Durchsage nicht mitbekommt, dass die Bahn aufgrund eines Unfalls ihre Streckenführung ändern muss, nutzt allerdings auch ein ebenerdiger Einstieg wenig. Um solche Probleme weiß auch Pesch. Die KVB ergreife deshalb weitere Maßnahmen für Menschen mit Behinderung, erklärt er. Eine einheitliche Symbolik und Farbgebung etwa bei den Hinweisschildern erleichtere Analphabeten die Orientierung. Sogenannte Leitstreifen helfen blinden und sehbehinderten Menschen bei der Orientierung. Und an den Haltestellen und in den Fahrzeugen gebe es schriftliche und akus-tische Hinweise nach dem sogenannten Zwei-Sinne-Prinzip, wodurch zum Beispiel Hör- oder Sehgeschädigten barrierefrei agieren können, indem sie ihre beiden ausgeprägten Sinne einsetzen. Erfolg vermeldet die KVB außerdem mit ihrem Angebot von Mobilitätstrainings für Senioren: Seit 2011 haben demnach 10.000 Teilnehmer gelernt, sich auch mit Einschränkungen sicher und routiniert im ÖPNV zu bewegen. 

 

Die häufigste Begegnungsstätte von Menschen mit und ohne Behinderung ist allerdings nicht die Straßenbahn — sondern der Job. Beim Kölner Integrationsfachdienst (IFD) berät und betreut Anke Bajon Schwerbehinderte, die Unterstützung am Arbeitsplatz benötigen. Sie vermittelt ihnen auch Arbeit — im Auftrag der Agentur für Arbeit, Rentenversicherung, Unfallversicherung oder Berufs-genossenschaft. Die Tabus zu brechen und offen vor sich selbst und anderen mit einer Beeinträchtigung umzugehen, das sei ebenso wichtig wie eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, sagt Bajon. In ihrer langjährigen Arbeit mit Menschen mit Behinderung habe sie oft Menschen erlebt, die ihre Einschränkung übermäßig kompensierten. »Es ist wichtig, die eigenen Grenzen zu erkennen und als positiv zu akzeptieren«, sagt sie. »Sonst kommt es zu einer dauerhaften Überforderung und Überanstrengung, die letztendlich zu Burn-out und Zusammenbruch führen können.«

 

Einen sicheren Arbeitsplatz mit erfüllbaren Anforderungen zu finden oder zu behalten, ist nicht nur aus finanziellen Gründen wichtig — sondern auch aus psycho-logischen und sozialen. Wie schwer oder wie leicht das ist, hängt allerdings nicht nur von der Einschränkung ab, sondern auch davon, wie viel im Umfeld, in diesem Falle dem beruflichen, über die Einschränkung bekannt ist. So vielfältig wie die möglichen Beeinträchtigungen sind nämlich auch die Reaktionen darauf — und die Herausforderungen, die sich daraus am Arbeitsplatz ergeben. Die Sichtbarkeit spielt dabei eine wichtige Rolle.

 

Nicht immer empfinden Menschen mit einem unsichtbaren Handicap ein Coming-out als Vorteil. Gerade im Berufs-leben verschweigen viele dauerhaft ihre Beeinträchtigungen aus Sorge, stigmatisiert zu werden. »Wenn man erzählt, man sei Autist, kommt es immer darauf an, welchen Film oder welche Dokumentation der andere zuletzt gesehen hat«, sagt ein Betroffener. »Dann heißt es: Ach, du bist Autist? Dann kannst du sicher auch das besonders gut — weil das bei dem Typen im Film so war.« Viele, die man befragt, berichten bereitwillig von ihren Erfahrungen im Alltag, aber kaum jemand möchte namentlich genannt werden — um Nachteile zu vermeiden. Oftmals ist das Berufsleben ein entscheidender Faktor. Offenbar ist der Schritt in die Sichtbarkeit für viele Unsichtbare nicht so leicht, wie er sein sollte, könnte oder müsste.

 

Mit der Frage, ob und wie man ein Handicap offenlegen soll, beschäftigt man sich auch an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. »Ob jemand am Arbeitsplatz seine chronische Erkrankung offenbart, hängt sehr stark vom jeweiligen Arbeitsumfeld, oft sogar vom direkten Team ab«, sagt Diplom-Psychologin Jana Bauer, die an einer Studie zum Thema mitwirkte. Überforderung finde sich nicht nur bei den Erkrankten selbst, auch das Umfeld reagiere oftmals überfordert. »Etwa, wenn nicht eingeschätzt werden kann, was die- oder derjenige wirklich benötigt und ob Probleme auf die Erkrankung oder doch auf andere Ursachen zurückzuführen sind.« Der tatsächliche Effekt im Arbeitsalltag könnte ungleich höher sein, denn die freiwilligen Studien-teilnehmer seien ohnehin schon die Personen, »die sehr offen mit ihrer jeweiligen Beeinträchtigung umgehen«, schränkt Bauer ein.

 

Offenheit wünscht sich auch IFB-Beraterin Bajon — und schließt dabei bewusst die Arbeitgeber ein. »Ich wünsche mir Arbeitgeber, die in Potenzialen und nicht in Defiziten denken«, sagt sie. »Ich wünsche mir kreatives Denken, auch bei großen Unternehmen und Behörden. Die kleineren Unternehmen sind da oft weiter und denken flexibler, differenzierter.«

 

In Potenzialen zu denken und unvoreingenommen zu sein — das gilt letztlich für beide Seiten: für Menschen mit unsichtbarer Behinderung und für Menschen ohne Behinderung — für die Sichtbaren und die Unsichtbaren.