Regisseur der Klaustrophobien

Die Gregor Schneider-Retrospektive »Wand vor Wand« ist eine Tortur — die man unbedingt gesehen haben muss

Mancher Besucher ist schnell -wieder draußen. Froh sich in die freundliche Langweile des Bundeskunsthallenfoyers gerettet zu haben nach den Intensitätszumutungen des Raumparcours der Ausstellung »Wand vor Wand«. Zu leer, zu bedrängend, zu grell, zu dunkel, zu kalt, zu warm, zu muffig, zu eng, zu aufregend, zu »öde« ist das, was es zu sehen und zu erleben gibt.

 

Gregor Schneiders Werke sind umfassend, ebenso unwirkliche wie penibel reale Funktions- und Alltagsräume, sie umgeben die, die sich in ihnen aufhalten, lassen sie in eine je eigene, dichte, stets auf andere Weise unangenehme und doch packende Atmosphäre eintauchen. Eigentlich ist das eine totale Zumutung (vor allem für die Aufsichtführenden), faszinierend oder ziemlich beklemmend oder beides zugleich. Notausgänge gibt es jedenfalls in großer Zahl. 

 

Das materielle Zentrum, der Ausgangsort der Arbeit des 1969 in Rheydt geborenen Gregor Schneider ist ein unscheinbares älteres Einfamilienhaus an seinem Geburtsort. 1985 beginnt er das Innere dieses Gebäudes zu verändern, baut Räume in Räume ein, indem er »Wand vor Wand« setzt. So entstehen Raumdouble und enge Zwischenräume, ein kaum merklich sich drehendes Kaffeezimmer, immer weiter modifizierte, verfremdete Räume bis hin zu unbetretbaren Kammern. Ein labyrinthischer, sich ständig verändernder Raumkosmos, der zugleich Atelier und Werk ist. Einlass erhalten nur wenige Auserwählte, den umfassendsten Eindruck bekam das Kunstpublikum auf der Venedig-Biennale 2001, für die Schneider es in den deutschen Pavillon transferierte und prompt den Goldenen Löwen gewann.

 

Aus diesem nach seiner Adresse — Unterheydener Straße, Rheydt — »Haus u r« genannten Kernbau stammt ein erheblicher Teil der knapp zwanzig in der Bundeskunsthalle gezeigten Raumwerke. Schneider baut sie für Ausstellungen wieder auf oder rekonstruiert sie, kombiniert sie mit anderen Raumfindungen zu einem alles Museale vergessen machenden Abfolge von emotional wie körperlich erlebbaren Orten. 

 

Der Zugang der Bonner Ausstellung besteht aus einem beklemmend sterilen Korridor, er ist einem Zellengang in Guantánamo nachempfunden, dann folgen zwei hell erleuchtete Metallräume, der eine zu warm, der andere zu kalt. Von dort geht es in einen größeren dunklen Bereich, in dem verschiedene, stets betretbare Einzelräume platziert sind. Jeder mit einer möglichen Geschichte, einer Funktion (»Badezimmer«, »Schlafzimmer«, »Kinderzimmer«) und einer, wenn überhaupt, spärlichen, deprimierenden, mitunter seltsamen Ausstattung. Auch eine »Doppelgarage« und ein grottiger, verließhafter »Keller« gehören zu dieser imaginären und doch sehr physischen Raumflucht. Nur kriechend — unter der Spüle, durch einen Wandschrank hindurch — ist die »Liebeslaube« zu betreten, ein grotesker, trauriger Einsamkeitsort. Auf dessen aufdringliche Helligkeit folgt der dunkelste, jede Orientierung verhindernde surreale »Raum mit hängendem Haus«, der einen die Tristesse des anschließenden kleinen Flurs und die Irritation eines Raums mit beweglicher Decke (ein Motor ist zu hören, aber bewegt sie sich wirklich?) fast entspannt erleben lässt. 

 

Eingefasst wird diese mehr als eindrucksvolle Innenweltraumfolge von zwei Werkkomplexen, die Schneiders Grundthemen — Tod, Bedrohung, Isolation, Existenz als nacktes Dasein und Selbstkonfrontation — ergänzen und weiten. Am Anfang steht eine mit skulpturalen Relikten und drei großen Videoprojektionen dokumentierte Einladung ins indische Westbengalen, wo Schneider den Nachbau eines Rheydter Straßenabschnitts und eines Kellers in eine vielbesuchte religiöse Zeremonie integrierte. Der letzte Raum ist dem Projekt »Odenkirchener Straße« gewidmet. An dieser Straße in Rheydt stand das Geburtshaus des NS-Propagnademinsters Joseph Goebbels. Schneider kaufte es 2014 und ließ es, dies zeigt eines der Videos, fachgerecht komplett entkernen. Zuvor unternahm er eine Begehung des Hauses, aß in der Küche, schlief in Goebbels Geburtszimmer. Ob diese Aktion als eine Art Exorzismus zu verstehen ist oder die Unschuld des Materials gegen das Abgründige des Denkens und Wissens antreten lässt, sei dahingestellt.

 

Diesem Ende vorgelagert sind zwei Räumen mit skulpturalen Objekten und Fotografien, einigen sehr frühen Zeichnungen, in sie eingebaut ist eine kleine, enge »Wunderkammer«. Zunächst erscheint das Durcheinander aus Abgelegtem, Kram, Verbrauchtem fast sentimental. Und doch sind — nach dem Gang durch Schneiders Räume — diese Dinge aufgeladen, infiziert. Eine altertümliche Lebendfalle für Mäuse nimmt sich wie ein Kommentar zum bislang Durchlaufenen und Erlebten aus. Durch einen Spalt, den die nicht ganz geschlossene Tür eines alten Kleiderschranks lässt, sind staubige Buchrücken zu sehen. Einer der Titel lautet: »Das Undenkbare denken«. Der Ort, der Anlass für den Versuch dieses Denkens sind Gregor Schneiders Raumwerke.

 

 

Bundeskunsthalle, Bonn, Friedrich-Ebert-Allee 4, Di + Mi 10–21, Do–So 10–19, bis 19.2. Der Katalog kostet 64 €.