Essen als Schnuller

Nachtisch # 55

Essen ist immer auch kindlich. Über Lippen, Gaumen, Zunge erfahren wir die Welt als erstes. Der Säugling steckt den Bauklotz in den Mund — um ihn zu ertasten. Zwar stimmt, dass wir in einem Zeitalter leben, das von optischen Reizen geprägt ist. Aber Knabbern und Saugen geben wir nicht auf. Heute weniger als zuvor. Der Lebensmittelhandel verlängert diese orale Phase ins Erwachsenenalter. Das belegt der immense Erfolg von süßem oder salzigem Knabber- und Schlabbergebäck und neuerdings von Smoothies — kaputtpüriertem Obst und Gemüse als Säuglingskost für Erwachsene.

 

Wie kommt das? Es ist, als sehnten wir uns beim optimierten Leben und Arbeiten im verschärften Kapitalismus nach einem Regress ins Infantile. Gedankenbetäubtes Knabbern, Saugen, Schlucken als Weltflucht zum Ursprung. Insofern sind Chips und Schokolade immer nostalgisch.

 

Wenn wir als Erwachsene derart geprägt sind, dann ist es kein Wunder, dass wir unsere Weise des unaufmerksamen Essens und Trinkens auch weitergeben. So sind die Produkte der Bäckereiketten — mundschmeichelndes, leidlich aromatisiertes Non-Food — zum festen Inventar von Kinderwagen und Buggys geworden. Es geht dabei gar nicht um Ernährung, sondern darum, Kinder ruhigzustellen. Wer kaut und saugt, der plärrt nicht. So kann man sich dann beim Kinderwagenschieben ungestört seinem Smartphone widmen. Ein Blick in die Straßen bestätigt dies tagtäglich.

 

Mit dem Essen als Schnuller verinnerlicht das Kleinkind die Fragmentierung unseres Essens. Auch sein Tag wird zur Abfolge immer neuer Zwischenmahlzeiten, für die es weder Tisch noch Rituale braucht. Das Ende der Tischkultur befeuert den Kapitalismus: Wir essen wie wir arbeiten — in Projekten. Routinen gelten als Stillstand. Aber nicht nur, dass Kinder kaum noch die Zubereitung von Speisen und regelmäßige Mahlzeiten in einer Tischgemeinschaft kennenlernen. Es wird sich bei diesem fragmentierten, beiläufigen Essen kein Gespür für Hunger und Sättigung entwickeln, das auch ein robuster Schutz gegen Essstörungen ist. Das fragmentierte, mobile Essen ist ein Kulturwandel, dessen Folgen wir noch gar nicht überblicken.