Die Lücke, die der Teufel lässt

Claus Lüer und seine »Chefdenker« haben mal wieder 19 Songs veröffentlicht

Ich stelle mir einen Radiomoderator beim öffentlichen Rundfunk vor, der sich fest vorgenommen hat, angesichts der neuen Chefdenker-CD »Eigenuran« Ernst und Anstand zu bewahren. Konzeptmusik, streng durchdacht, schlau ausgeführt, edel durchgereifter Altpunk — hat ihn seine Redaktion gebrieft. Er wird dann vielleicht von den »heißen Eisen« reden, die das Kölner Quartett um Sänger und Rhythmusgitarrist Claus Lüer wieder angepackt habe: Kritik der empirischen Sozialforschung (»Die Shell Jugendstudie«), die harten Arbeitsbedingungen von Transportarbeitern (»Manni hat Durst«), Skepsis gegenüber medizinischen Moden (»Mythos Leberzirrhose«), Nachbarschaftskonflikte (»Der Mann der sich ungern bewegt«). Aber irgendwas ist an dem Bild nicht ganz stimmig.

 

Radiomoderatoren heute sind nämlich ironisch und augenzwinkernd distanziert und tun sich deshalb schwer mit einer Band wie Chefdenker, die so ergreifend unironisch ist und jede künstlerische Distanzierungsgeste ablehnt. Luer steht nie über den Leuten, die in seinen Songs auftreten (»kein übles Nachtreten«), allerdings auch nie unter ihnen. Das ist zu kompliziert für die öffentliche Meinung: »Irgendwann habe ich angefangen, unsere CDs zu 1Live zu schicken, da gibt’s so eine Sendung, Plan B. Und ich habe mir gesagt, wenn die uns spielen, lösen wir uns auf. Das hat bislang noch jedes Mal geklappt, dass sie uns nicht gespielt haben. Die schicken die CDs auch wieder zurück, immer mit so einem Formsatz: Leider passt Ihre Musik nicht in unser Konzept. Zitier ich immer, macht sich gut fürs Marketing.« Sagt Claus Lüer im exklusiven Interview, für das er ganz aus der Puste angeradelt gekommen ist: »Mein Fahrrad hat keine Gangschaltung.«

 

Das mit der Konzeptmusik stimmt übrigens: Chefdenker veröffentlichen immer 19 Songs, der Leadgitarrist hat immer nur eine Aufgabe: so viele Noten zu spielen, wie nur irgend möglich, Claus Lüer singt immer mit einer Stimme, die klingt wie agonales Hundeknurren im Trümmerfeld. Das verführt manche Insider dazu, Chefdenker zur Porzer Punkhochkultur zu zählen, eine Epoche, die allerdings sowieso nur aus Chefdenker besteht — und aus Knochenfabrik, bei denen ein gewisser Claus Lüer singt und Gitarre spielt. 

 

An der Musik gibt’s wenig zu deuteln, dafür inhaltlich immer viel zu interpretieren. Ihr letztes Album »Römisch Vier« war vielleicht ein Statement zur Finanzkrise, vielleicht aber auch nicht. Das ist jetzt anders, »Eigenuran« hat ein Generalthema. »Chefdenker haben bislang unterschiedliche Themen behandelt, wo das Saufen immer eingebunden ist. Aber es geht letztendlich nicht um das Saufen. Man hätte das genauso gut mit Rauchen darstellen können. Auf ›Eigenuran‹ dreht sich aber alles um’s Saufen. Als wir vor 20, 25 Jahren mit Knochenfabrik angefangen haben, gab es noch jede Menge prolligen Sauf-Punk. Den hört man heute kaum noch. Das waren damals tolle Saufsongs von Jungs mit Iros und Bauchansatz. Heute machen die Bands einen auf schwermütig, so’n bisschen Rumgeweine. Das hat mich gestört. Wir wollten die Idee des Saufsongs wieder aufblitzen lassen.« Und es blitzt ganz schön. Ein Blitzgewitter der Verzweifelung, über die einen ein paar Bierchen hinweghelfen, die sich aber, je mehr man säuft, umso stärker wieder einstellt. So wie aus der Musik der Beach Boys eine unheimliche Todessehnsucht hervorblitz, so ist auch »Eigenuran« kein fröhliches Album. »Am Anfang waren wir noch völlig euphorisch: In jedem Song muss ›Dosenbier‹ untergebracht werden. Nach dem siebten Dosenbier-Lied kommt der Überdruss, dann kannste es selber nicht mehr hören. Feierabend.« 

 

So wird das Kreisen um‘s Saufen durch ein anderes Thema überlagert, das vielleicht der Kern von Chefdenker-Musik schlechthin ist (vielleicht aber auch nicht): Entropie. Wenn man nicht mehr das machen will, was man machen kann — und umgekehrt. Eben hatte man noch sein Leben schön im Griff, nach einer eigenartigen Nacht voller abseitiger Einfälle befinden sich Schnappschüsse auf der eigenen Facebook-Seite, die dort nie hätten stehen dürfen. Und wo kommt eigentlich dieser eigenartige Fleck auf deiner Hose her? Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Plan und Umsetzung befindet sich eine logische Leerstelle, eine Lücke, die immer größer wird, und in die du hinein gesaugt wirst. Zum Soundtrack von Chefdenker. 

 

»Wenn Du Mainstream-Rock, ich sag mal: Songs von Bon Jovi, ins Deutsche übersetzt, da kommen nur Durchhalte-Parolen und Kalendersprüche raus. Das gibt’s auch im Punk. Platte Durchhalte-Parolen. ›Ich und meine Kumpels auf der Straße, wir schaffen das schon.‹ So was in der Art. Aber mich stört, dass die Musik dazu nie passt. Dann muss auch die Musik durchhalten. Die Idee für unseren Song ›Harter Weg‹ war, ihn auf dreißig oder vierzig Minuten zu dehnen, bis jedes Kalenderblatt abgerissen ist. Aber uns wurde langweilig. Soll ich mir noch einen Kalender kaufen, um so dumme Weisheiten zu finden? Deshalb dauert er nur sechs Minuten.«

 

Chefdenker sind die beste Band, die niemals auf Staatsakt erscheinen wird, »Eigenuran« ihr bis dato eigenwilligstes Album, weil es so zerhackt und zerfasert ist (»Die Jungs sind ja genervt, die Musik ist schon eingespielt, ich hänge mit den Texten hinterher. Also lieber einen kurzen Song. Manchmal auch einen Song, wo der zweite Teil mit dem ersten gar nichts mehr zu tun hat.«) und so das Disparate im Leben einfängt. Was man natürlich nicht einfangen kann: »Respekt, dass man weitermacht, wenn man eigentlich nicht mehr weiß, was man macht.« Lüer hat das auf seinen Song »Chris Howland« gemünzt, über den haben wir noch gar nicht gesprochen, aber dafür ist es jetzt zu spät.

 

Tonträger: »Eigenuran« ist über die Homepage der Band (chefdenker.de) oder über den Vertrieb Cargo zu beziehen