Gehässige Träume

Auf der Bühne erinnert sich Tanzgenie Mikhail Baryshnikow seiner Freundschaft mit dem Dichter Joseph Brodsky

Anfang 1976 gab Mstislav Rostropovich, der berühmte Cellist, eine Party. Der Tänzer Mikhail Baryshnikov war natürlich eingeladen; all die Künstler, die aus der Sowjetunion nach New York emigriert waren, hockten zusammen. Baryshnikov brachte seine Freundin mit, die Ballerina Gelsey Kirkland, ebenfalls ein Star, eine Amerikanerin. Später beschreibt sie in ihrem Buch »Dancing on my grave« den Abend in knappen Worten: Wie der Gastgeber sie, die später eintraf, an den Tisch geleitete, wo eine Runde Russen saß und Wodka trank: Baryshnikovs Freunde, Kumpel, »Buddys«, er selbst mittendrin. Sie mochte keinen Wodka, wollte aber Teil dieses Rituals sein; also half ihr Rostropovich, indem er heimlich ihr Glas leerte und noch eins und noch eins. Und seins noch dazu. Vielleicht saß Joseph Brodsky mit an dem Tisch. Sie erwähnt seinen Namen nicht, aber der Nobelpreisträger, ebenfalls russischer Exilant, war über Jahrzehnte einer der engsten Freunde Baryshnikovs.

 

Brodsky schrieb im selben Jahr ein Gedicht über das klassische Ballett, »The art of better days!«, in dem er den acht Jahre jüngeren Baryshnikov erwähnt. Seine Drehungen und Flüge beim Tanzen erinnerten an »die Sehnsüchte der Seele, das alte Russland hinter sich, oder an gehässige Träume, denn der Boden, den man dann berührt, der ist doch sehr hart, gerade in den Staaten«. So lesen sich die letzten Zeilen der Übersetzung des russischen Originals. Brodsky schaute sich zwar die Vorstellungen an, in denen Freund Mikhail, den alle Welt bis heute Misha nennt, tanzte. Doch, wenn sie sich trafen, redeten sie nie über das Ballett, sondern über alles andere. Meist durchstreiften sie dabei Downtown Manhattan oder spazierten entlang des Hudson Rivers. Das war ihre Art, den harten Boden Amerikas abzuschmirgeln.

 

Gelsey Kirkland wiederum verzweifelte an den Launen ihres Geliebten, auch wenn ihr Misha noch so nobel und über jeden Zweifel erhaben tanzte. Der Ruf des Stars, eines absoluten Könners, des Genies eilt Mikhail Baryshnikov bis heute voraus. »Sein Talent ist jenseits aller Superlative. Er springt in die Höhe ohne sichtbare préparation. Seine Schritte scheinen ineinander zu verschwimmen, ohne jedoch ihre jeweilige Definition zu verlieren; er wird buchstäblich ein bewegtes Bild, a motion picture«, beschreibt Kirkland seinen Tanz. Er habe es irgendwie geschafft, Technik und Stil zu einer perfekten Stimme zu vereinen. Wenn man ihn auf der Bühne erlebt, kann man nur zustimmen. Diese Charakteristik springt den Zuschauer immer noch an: Diese Mühelosigkeit, die weniger heldisch als menschlich wirkt.

 

Geboren wurde der Tänzer 1948 in Riga, heute Lettland, damals sowjetisch, als Sohn eines hochrangigen russischen Offiziers. Die Mutter verließ die Familie, als er zwölf war, über die Trauer half das tagesfüllende Tanz-Training hinweg, das er damals begann. Sie hatte ihn, der zuvor Fußball spielte, zum Vortanzen in einer Ballettschule geschickt. 

 

Bald wechselte er zur Vaganova-Schule in Leningrad und hatte sein Debüt als Profitänzer 1967 im Kirov-Ballett. Dessen ästhetisch gloriose Zeiten lagen in der Vergangenheit. Künstlerischer Wagemut war politisch nicht gewollt. Mobbing, Degradierung, Denunziation und Bespitzelung sollten Unbotmäßige auf Linie bringen. Dennoch fiel Baryshnikov der Abschied nicht leicht, als er sich 1974 bei einer Kanada-Tournee durch den Hinterausgang des Theaters stahl, geschützt durch den Massenauflauf seiner Fans, um bei Freunden unterzutauchen und Asyl zu beantragen. 

 

Von dort ging es in die Weltstadt New York. Die Neugier, der Hunger auf Anderes, ließ Baryshnikov, glaubt man seinem biographierenden Freund Gennady Smakov, zu anderen Choreographen und Tanzstilen wechseln, auch zum Schauspiel; er wurde selbst Choreograph, Ballettchef, Regisseur, leitete eine kleinere Kompanie, das White Oak Dance Project, das seine letzte Premiere bei der Ruhrtriennale 2002 in Essen feierte, eröffnete 2005 das Baryshnikov Art Center, das bis heute in Manhattan junge Tanzkünstler unterstützt, trat in »Sex in the City« auf.

 

Hinter all dieser scheinbaren Unermüdlichkeit und dem riesigen Beifall lässt sich aber auch der Entwurzelte, Heimwehgeplagte entdecken: in »Brodsky/Baryshnikov«. In der Inszenierung von Regisseur Alvis Hermanis lässt Baryshnikov diese Männerfreundschaft wieder auferstehen. Hermanis hat dazu einen Reigen aus Gedichten aus der ganzen Schaffenszeit Brodskys komponiert. »Ich sagte zu Mischa, du musst dir vorstellen, dass du nicht alleine auf der Bühne bist«, erklärt Hermanis. »Es gibt zwei Leute, und da ist etwas zwischen ihnen, ein Geheimnis.« Brodsky taucht als Stimme vom Band auf, Baryshnikov verkörpert den lebendigen Part in diesem geduldigen Duett. Sie kippen Vodka und wandern am Hudson entlang, während sie auf Russisch diskutieren, erzählen, lachen und lästern und wieder lachen.

 

Die auf die Bühne montierte Datscha mit Tür und Fenstern, die er mit seinem Körper bespielt, darf man sicherlich Fassade deuten. An diesem Abend darf man aber das sehen, was die beiden eigentlich schützen wollten. 

 

 

Brodsky / Baryshnikov, A. + R.: Alvis Hermanis, in russischer Sprache mit Übertiteln, 11.–15.5., Erholungshaus Leverkusen, Großer Saal, 19.30 Uhr