Dystopischer Erkenntnisekel

Moritz Sostmann inszeniert Faust 1 als dystopisches Psychogramm des modernen Menschen

»Die meisten Menschen hasten so sehr nach Genuss, dass sie an ihm vorbeirennen«, schrieb der dänische Philosoph Søren Kierkegaard. Auf kaum eine literarische Figur passt diese Diagnose so gut, wie auf Goethes Faust, diesen ruhelosen Archetypen der Moderne, der von Sehnsüchten getrieben nirgendwo ankommt. Hausregisseur Moritz Sostmann nimmt sich auf der Bühne des Schauspiels diesem Despoten der eigenen Willenskraft an und inszeniert seine Version des Faust (Philipp Pleßmann) als einen sich verzettelnden Intellektuellen, der sich ach so gerne amüsieren mag und doch keinen rechten Gefallen an den irdischen Lüsten findet. 

 

Erst mit Mephistos Versuchen, den feingeistigen Kopfmenschen in die Welt hinaus zu locken, nimmt dessen Untergang Fahrt auf. Im paillettenbesetzten Glitzerkostüm überredet Yvon Jansen in ihrer Rolle als dominanter Macker Mephisto den arglosen Faust zu Verjüngungskuren und Yes-Nights. Sie lässt ihm keine Ruhe, bis er auch das fromme Feinliebchen Gretchen (Katharina Schmalenberg) in den Wahnsinn getrieben hat. Die ästhetischen Welten, die Sostmann dabei erschafft, changieren zwischen wahnhaftem Rausch und Dystopie: Mit einem Fingerzeig, einem bedächtigen Ausatmen, wirbelt Mephisto die Psyche des Faust durcheinander, um ihm im nächsten Moment auf den Boden seines vernichtenden Realismus zurückzuholen.

 

Es sind vor allem die leisen Bilder, die Sostmann in die komplexe Bühnensprache des ersten Teils von Fausts Tragödie einstreut, die dem Stoff auf der Bühne ihre Zugkraft geben: Da rollen kichernde Meerkatzen in blassrosa Tutus Planeten durch das Universum, und Gretchen schreit ihr Herzeleid zum Piano-Cover von Fugazis »I‘m so tired« heraus. Im Schatten der Bühne singt ein Chor ein herzzerreißend schönes Lied zum Weltuntergang. Jede Figur ist ein Puppen-Alter-Ego zur Seite gestellt, und die Puppen entwickeln, geführt von den Schauspielern, ein schier menschliches Eigenleben.

 

Faust, Goethes Hauptwerk, sein »Weltentwurf«, an dem er dreißig Jahre arbeitete, bleibt eine Herausforderung, sowohl vor als auch auf der Bühne. Sostmann hat mit seiner Version einen ausgeklügelte Abend erschaffen, der im Dickicht von Verweisen und sprachlichen Feinheiten den Anspruch an das Publikum hat, über die ganze Länge des Stückes mitzudenken. Und nicht nur, wie Mephisto augenzwinkernd empfiehlt, einfach nur zu konsumieren. 

 

»Faust 1«, A: Johann Wolfgang von Goethe, R: Moritz Sostmann, 28., 29.3., Depot 1, 19 Uhr