Foto: Dörthe Boxberg

Musik für Füchse

Die Komponistin Unsuk Chin wird für ihre assoziationsreiche und ungeheuer präzise Musik weltweit gefeiert. In ihrer deutschen Heimat gilt sie noch als Außenseiterin. Das Kölner Festival »Acht Brücken« (28.4.–7.5.) stellt jetzt ihre Musik in den Mittelpunkt des Programms.

Wenn man Ihre Musik hört, dann hat man das Gefühl, man würde durch Räume geleitet, es ist sehr plastische, regelrecht greifbare und anschauliche Musik.

 

Da haben Sie sich nicht getäuscht. Meine Musik ist das Abbild meiner Träume, und so wie Träume plastisch sind, sind es auch meine Vorstellungen von Klangfarben und Atmosphären. Es geht mir um ein Spiel von Licht und Farben, die durch den Raum fließen, und gleichzeitig auch darum, klangliche Architekturen zu schaffen. 

 

Folgt Ihre Musik denn einer Traumstruktur mit all ihren Sprüngen, Brüchen, eigentlich unmöglichen Synthesen?

 

Nein, sie hat ein rationales Prinzip. Die Bilder aus den Träumen müssen ja aufs Papier, müssen in eine Form gebracht werden, ich gehe nach sehr strengen logischen Regeln vor. Die widersprechen überhaupt nicht der Phantasie, aber sie formen sie, verleihen ihr eine Struktur, mit der ich weiterarbeiten kann.

 

Wie entwickelt sich ein Stück für Sie? Wovon gehen Sie aus?

 

Am Anfang ist immer … nicht das Wort, sondern die Idee. Die Arbeit findet im Kopf statt, ich entwickele die Idee, andere kommen hinzu, fallen wieder weg. Es dauert etwas, bis das Gesamtbild einer Komposition klar ist, und dann erst kommt der Zeitpunkt, wo ich weiß, dass das Stück geschrieben werden muss. Erst wenn die Idee wirklich reif ist, kann ich sie ins Notenbild übertragen. 

 

Haben Sie ein Grundgerüst an musikalischen Formeln, aus denen sich dann ein Stück entwickelt?

 

 

Ich arbeite gerne mit geometrischen Formen, mit kleinen Fragmenten, die mathematisch aufgebaut sind. Aber die hört man am Ende gar nicht. Wenn man sich die Musik mikroskopisch vornimmt, dann sind die logischen Verknüpfungen, ist die geometrische Struktur der Musik offensichtlich. Ich gehe dabei nicht immer vom gleichen Material aus, sondern versuche bei jedem Stück etwas anderes zu komponieren. Ich denke, es gibt zwei Typen von Komponisten, die einen haben ihre Musik schon gefunden, sie schreiben jedes Mal in dieser Sprache. Und dann gibt es die, die immer neu auf der Suche sind, dazu gehöre ich. Jedes meiner Stücke muss sich aus sich selbst legitimieren, muss den Grund liefern, warum es so und nicht anders geschrieben wurde. Der Philosoph Isaiah -Berlin schrieb einmal, dass es zwei Arten von Schriftstellern gibt: die Füchse und die Igel. Der Igel weiß ein großes Ding und bezieht stets alles auf ein umfassendes System. Der Fuchs wiederum fühlt sich von einer Vielfalt von Dingen angezogen und muss sich stets neu erfinden. Das gilt auch für Komponisten, ich gehöre sicherlich zu der zweiten Kategorie.

 

Spielt für Sie Improvisation eine Rolle?

 

Nein, niemals. Der Vorgang des Komponierens ist ein ganz anderer als der des Musizierens. Wenn man an einem Instrument sitzt und etwas spielt, dann probiert man aus. Man spielt, man hört und entscheidet sich dann. Aber das ist nicht meine Arbeitsweise. Ich komponiere nur am Tisch — mit Papier und Bleistift.

 

Schreiben Sie speziell für Interpreten?

 

Seit etwa zehn Jahren. Davor hatte ich keine Personen, keine Musiker oder Dirigenten im Hinterkopf. Mein Cello-Konzert habe ich für Alban Gerhardt geschrieben, die Zusammenarbeit war sehr fruchtbar. Das war für mich der Ausgangspunkt, die Zusammenarbeit mit Interpreten ist seitdem viel wichtiger geworden. Ich lasse mich von ihrer Persönlichkeit inspirieren, profitiere von ihren Erfahrungen, ich lerne ihr Spiel genauer kennen. Es macht die Komposition reicher, lebendiger. 

 

Wann war Ihnen in Ihrer musikalischen Entwicklung klar, dass Sie Komponistin werden?

 

Da war ich 12 Jahre alt, vielleicht 13. Ich wollte Konzertpianistin werden, aber meine Familie konnte mir nicht den Klavierunterricht bezahlen. Mein Musiklehrer in der Schule, der selber Komponist war, hat mir dann empfohlen, selber zu schreiben. Aber bis zur Aufnahmeprüfung an der Akademie hatte ich keinen regelmäßigen Unterricht, am Anfang war ich Autodidaktin. Harmonielehre und Kontrapunkt hatte ich mir selber beigebracht, vor allem habe ich viel Musik gehört, habe mir zu den Stücken die Partitur besorgt und das Lesen von Partituren gelernt, damals sogar Orchesterpartituren mit Hand kopiert, weil es kein Geld gab, welche zu kaufen. Das hat nicht geschadet, sondern es hat mich unabhängig gemacht, ich lerne heute immer noch.

 

Ihre Kompositionen werden weltweit gespielt. Aber man hat den Eindruck, dass sie in Deutschland immer noch unterrepräsentiert sind.

 

Ich lebe seit über dreißig Jahren in Deutschland, zuerst drei Jahre in Hamburg, seitdem in Berlin. In den ersten 15 Jahren wurde von mir in Deutschland nichts gespielt. Gar nichts. Ich hatte aber auch keinen Kontakt zu anderen Komponisten oder Ensembles. Ich war praktisch alleine, das wollte ich auch so. Es war eine Zeit, in der ich viel gegrübelt habe, viel mit mir selbst zu tun hatte. Außerhalb Deutschlands bin ich aber schon damals gespielt worden. Als ich nach Deutschland kam, gab es hier gerade ein größeres Interesse an Musik aus Fernost, und mit diesem Interesse war auch eine Erwartung verbunden, wie junge Komponisten aus Ostasien zu komponieren hätten — vor allem traditionell. Das hat man von mir nicht bekommen. Mich interessieren diese Klischees von ostasiatischer Tradition oder einem bestimmten Frauenbild nicht. Ich habe mich solchen Identitätsfallen konstant verweigert.

 

Wie würden Sie heute ihr Verhältnis zur deutschen Musikszene beschreiben?

 

Ich bin nicht sonderlich daran interessiert, Teil irgendeiner »Szene« zu sein. Es gibt wunderbare Musiker und Ensembles in Deutschland, mit denen ich liebend gerne zusammenarbeite, aber ansonsten lebe ich gerne zurückgezogen, was man ja auch in Berlin sehr gut machen kann: Man hat hier alle kulturellen Angebote, kann aber auch anonym und zurückgezogen leben, diese Kombination ist ziemlich einmalig. So einen Ruhepol zu haben, ist sehr wertvoll, ansonsten wäre das Leben einfach zu hektisch: Ich reise viel — mal habe ich eine Uraufführung in Amerika, mal in Japan oder anderweitig in Europa —, außerdem leite ich die Neue-Musik-Reihe des Philharmonia Orchestra in London sowie die Programmplanung für das Seoul Philharmonic Orchestra in Südkorea. Zuhause in Berlin finde ich die Muße, zu komponieren. 

 

Beim diesjährigen Acht-Brücken-Festival steht das Verhältnis von Musik und Sprache im Mittelpunkt. Sie haben einmal über ihre Stücke gesagt: »Die Sprache ist selber Bestandteil der Musik.« Was meinen Sie damit?

 

Ich will durch die Sprache keine Botschaft senden. Sprache ist für mich ein Werkzeug: Wenn ich für Stimme komponiere, suche ich vorzugsweise nach Texten, die ich gut musikalisch verwenden kann und idealerweise solche, deren Strukturen kompositorischen Verfahrensweisen ähneln. Manchmal sind sie abstrakt, manchmal weisen sie auf Außermusikalisches, wie zum Beispiel in meiner Oper »Alice in Wonderland« oder in meinem neuesten Stück, dem moderne Gedichte über Astronomie zugrundeliegen. 

 

 

Unsuk Chin wurde 1961 in Seoul, Südkorea, geboren und lebt seit 1985 in Deutschland. Ihr Werk ist mehrfach preis-gekrönt und wird von den großen Orchestern der Welt aufgeführt. Obwohl jedes ihrer Stücke anders klingt, ist ihre gemeinsame Handschrift immer zu erkennen: Das macht die Eigenständigkeit ihres Werkes aus. Das »Acht Brücken«-Festival präsentiert ihre Musik in zwei großen Porträt-Abenden und zahlreichen kleineren
Konzerten (achtbruecken.de).