Die zweite Genesis

Die Geschichte der Gentechnologie ist ohne Visionen nicht denkbar. Immer waren große Zukunftsversprechen mit neuen Forschungsvorhaben verbunden. Doch was ist aus den Prophezeiungen des frühen Biotech-Zeitalters geworden, und wovon reden Forscher heute? Zum Abschluss der SR-Serie Biopolitik eine Zwischenbilanz.

Geht es los? Gibt es bald geklonte Menschen, die sich auf Partys und in der Kneipe mit uns – den Beischlafgezeugten – über die bessere Art der Menschwerdung streiten? Vielleicht. Im Herbst brach die US-Firma Advanced Cell Technology (ACT) das Tabu. Ihre Forscher fügten einer entkernten menschlichen Eizelle den Kern einer menschlichen Hautzelle hinzu. Die manipulierte Eizelle teilte sich, es entstand ein menschlicher Zellhaufen, ein Embryo. Die Firma hat aber nicht die Absicht, Menschen zu klonen, sie will Stammzellen entwickeln – also Zellen, aus denen sich theoretisch ein individueller »Reparaturbaukasten« für jeden Menschen herstellen lässt, nämlich dann, wenn Forscher auch noch in der Lage sein werden, individuelle Stammzellen so anzuregen, dass sie sich zu Organen entwickeln.
Alle, vom amerikanischen Präsidenten George W. Bush über deutsche Politiker aller Parteien, die Bundesärztekammer, die evangelische Kirche bis zum Vatikan, zeigten sich empört über diesen Ansatz des therapeutischen Klonens mit menschlichen Embryonen. In manchen Fällen mag der Aufschrei jedoch nur halbherzig gewesen sein. So empfahl der Nationale Ethikrat des Bundeskanzlers den Import von Stammzellen zu Forschungszwecken zumindest einmal auszuprobieren. Auf lange Sicht, glaubt der Philosoph Roland Kipke aus Berlin, werden sich die meisten Menschen im Widerstreit zwischen »irgendwie finde ich das nicht richtig« und »eigentlich kann man nichts dagegen tun« für die zweite Möglichkeit entscheiden. »Und das wird zusammen mit dem Gewöhnungseffekt aller Wahrscheinlichkeit nach dazu führen, dass heute umstrittene Praktiken in Zukunft angewandt und sich breiter Akzeptanz erfreuen werden«.

Der Traum vom perfekten Lebewesen

Schon vor zehn Jahren sprach sich der Freiburger Molekularbiologe Rudi Hausmann dafür aus, die neuen Technologien nicht in Frage zu stellen: »Nachdem der Mensch versucht hat, die Welt zu verstehen, bietet es sich an, sie auch zu verändern.« Aber noch ist es nicht soweit. Selbst Wissenschaftler betrachten das ACT-Experiment skeptisch. Dass sich der Klon nicht über das Sechs-Zell-Stadium hinaus entwickeln konnte, zeige, dass es sich um erste Ansätze handele, so Harry Griffin vom schottischen Roslin Institute. Griffin muss es wissen, denn das ACT-Experiment entspricht demjenigen, dem das am Roslin Institute geklonte Schaf Dolly sein Leben verdankt. Jedoch sei der Einwand, die Dolly-Methode sei unausgereift, nicht wirklich tragfähig, meint Kipke. »Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis diese Technik ihre Kinderkrankheiten überwindet.« Damit könnten prinzipiell auch Menschen vervielfältigt werden. »Dass das Nein zum reproduktiven Klonen heute dennoch alle Lager verbindet«, so Kipke, »liegt schlichtweg daran, dass es noch keine medizinischen Therapien und keinen Profit verspricht.«
Das könnte sich ändern. Extremisten – oder sind es Vordenker? – wie Severino Antinori, Arzt und Chef einer Fortpflanzungsklinik in Rom, formulieren bereits die notwendigen Bedürfnisse: »Klonen ist das letzte Mittel, die Unfruchtbarkeit zu überwinden.« Und Brigitte Boisellier, Forschungschefin der Firma Clonaid auf den Bahamas, und Priesterin der Raël-Sekte, die glaubt, dass Menschen einst von Außerirdischen geklont wurden, meint: »Jeder soll selbst entscheiden, wie er sich fortpflanzen will.« Das reproduktive Klonen könnte auch bei jenen auf fruchtbaren Boden fallen, denen die Qualität des menschlichen Erbguts am Herzen liegt – etwa bei Robert Graham, der seit 1980 im US-amerikanischen Escondido eine Samenbank für berühmte Herren leitet: »Ich war besorgt, dass intelligente Leute in den meisten Fällen keine große Familie haben. Das hat einen senkenden Effekt auf die Intelligenz der Bevölkerung.« Graham ist stolz, dass die ersten Samenspender Genetiker und Nobelpreisträger waren. Im großen und ganzen ginge es um einen alten Traum, erklärt der US-Genetiker und Wissenschaftshistoriker Bentley Glass aus Cold Spring Harbour: »Die Zahl der Genies zu erhöhen und die Zahl der Menschen mit gewissen Störungen zu vermindern.« Doch wer bestimmt, was »gewisse Störungen« sind? Der Traum vom besseren Menschen hat in den letzten beiden Jahrhunderten im Namen von Rassenhygiene und Eugenik viel Unheil angerichtet.

Die Gentechnik und ihre Kritiker

Der Traum vom Besseren ist das zentrale Motiv der Gentechnik: Es gibt praktisch kein Gebiet, auf dem sie vorgeblich nicht nutzbringend angewandt werden könnte; kein Problem, von Krebs übers Altwerden bis zu Umweltverschmutzung und Hunger in der Dritten Welt, das für sie unlösbar wäre. Die Träume von perfekten Pflanzen, Tieren und Menschen stießen allerdings immer auch auf Widerstand. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre wurden Ethikkommissionen gegründet, Äcker besetzt, transgene Pflanzen herausgerissen; bis weit in die SPD hinein wurde selbst Gentechnik in der Landwirtschaft skeptisch gesehen. Radikale Kritiker galten gar als potenzielle Terroristen. So führte das Bundeskriminalamt am 18. Dezember 1987 in 33 Wohnungen und Betrieben eine Großrazzia durch, um Mitglieder der Roten Zora, der Frauengruppe der Revolutionären Zellen, aufzuspüren: Die Gegnerinnen der neuen Gen- und Fortpflanzungstechniken hatten sich zum Brandanschlag auf das Institut für Humangenetik in Münster, 1986, bekannt.
Heute werde Gentechnik kaum noch grundlegend kritisiert, meint Gregor Bornes aus dem Vorstand des Gen-ethischen Netzwerks (GeN). »Selbst bei den Grünen kennt sich in den oberen Etagen der Parteihierarchie niemand mehr mit Gentechnik wirklich aus.« Der Protest habe sich gewandelt, sagt hingegen Benny Härlin, Gentechnikexperte bei Greenpeace. »Viele Aktionen und vor allem der anhaltende Widerstand hunderttausender Verbraucher haben die Einführung gentechnisch veränderter Lebensmittel erfolgreich verhindert und mündeten in konkrete Politik.« 1999 setzte eine Mehrheit der EU-Staaten faktisch ein Moratorium gegen die kommerzielle Freisetzung transgener Pflanzen durch. Doch die Entscheidung für oder gegen gentechnisch veränderte Pflanzen und Lebensmittel fällt nicht in der EU allein. In gentechnikfreundlichen Ländern wie Argentinien, Kanada und den USA nimmt der Widerstand allerdings auch zu.
»Vielleicht schaffen wir es, Umweltkatastrophen mit gentechnisch veränderten Organismen zu verhindern«, versucht Härlin eine Prognose. Das eigentliche Problem aber sei, »dass die Gentechnik in den Köpfen und in unserer Kultur ein radikal verändertes, letztlich mechanistisches Menschenbild manifestiert«. Physik und Chemie haben es geschafft, die Materie nach des Menschen Willen zu formen, die Gentechnik führt dies mit der lebendigen Natur inklusive Mensch fort. Härlin bestätigt damit den amerikanischen Forschungsleiter des Human Genome Project, David Smith, der 1988 bereits der Gentechnik das Potenzial zuschrieb, das Menschenbild radikal zu verändern. Damals begannen Wissenschaftler, die menschliche Erbsubstanz systematisch zu entschlüsseln, inzwischen ist das menschliche Genom sequenziert. Doch die Aktienkurse der beteiligten und auf eindeutige Ergebnisse hoffenden Firmen fielen schlagartig, als deutlich wurde, dass die Biologie des Menschen komplizierter ist als angenommen. Es gibt zwar nur rund 50.000 menschliche Gene, aber etwa fünfmal so viele Eiweiße, die in menschlichen Zellen aus diesen Genen hergestellt werden. »Damit«, so Härlin, »brach die grundlegende Annahme, aus einem Gen entstehe ein Eiweiß, und der daraus abgeleitete Biologismus zusammen, demzufolge das Leben ausschließlich durch Gene gesteuert werde, wie ein Computer von seinem Programm.« Das war heilsam, hinderte die Pharmabranche aber nicht daran, weiterhin Wunderheilungen zu versprechen.

Nachfrage, Angebot und Menschenbild

Im selben Jahr, in dem das Human Genome Project begann, legte die EU-Kommission ein Programm mit dem Titel »Prädiktive Medizin« auf. Ziel war, »Personen vor Krankheiten zu schützen, für die sie von der genetischen Struktur her anfällig sind, und gegebenenfalls die Weitergabe der genetischen Disponiertheit an die folgenden Generationen zu verhindern«. Mehr und mehr Krankheiten lassen sich als Veranlagung in Genen belegen. Und so bieten in Deutschland private Praxen und Universitätsinstitute bereits Gentests für mehr als 300 Krankheitsbilder an. Angewandt werden sie auch in gynäkologischen Praxen, um Föten einem Gesundheitscheck zu unterziehen. Solche Tests sind jedoch problematisch, meint Gregor Bornes: »Sie lassen keine Aussage darüber zu, wie schwer die Krankheit sein wird.« Sie könnten aber langfristig dazu führen, dass sich eine »Eugenik von unten« ausbreitet. Neugierig gemacht durch Berichte in Medien, zeigen sich Schwangere, die natürlich ein gesundes Kind haben wollen, an Gentests interessiert und lassen sich von dem beeinflussen, was jeweils als genetische Norm gilt. Wenn ein Embryo der Norm nicht genügt, gibt es ja die Möglichkeit der Abtreibung.
Außerdem will die Pharmaindustrie eine genetische Diagnostik etablieren, mit der erkannt werden kann, wie der Stoffwechsel eines einzelnen Menschen funktioniert. Diese sogenannten »Pharmacogenomics« verkauft die Pharmabranche als individuelle Medizin, bei der das passende Medikament haargenau abgestimmt auf das genetische Profil verabreicht werden kann. Das klinge gut, sagt Bornes, präge aber das Bild des »gesunden Kranken«, der klinisch unauffällig ist, jedoch in seinem genetischen Profil von der Norm abweicht. Um sich gesund zu halten, müsse so jemand dann täglich Pillen schlucken. »Dann hängt man am Tropf der Industrie«, so Bornes.
Alles ist möglich – einiges schon heute, vieles morgen. Die Gentechnik ist in der Lage, das Bild vom unvollständigen Menschen zu ersetzen durch eines des störungsfrei funktionierenden Maschinenmenschen. Ob das geschieht, ist offen. ein Blick in die Zukunft ist immer nur eine Prognose. Auch wenn beispielsweise die Pharmaindustrie auf einen großen Reibach hofft, ihre Kunden müssen mitmachen. Die Nachfrage regelt das Angebot – und zumindest auch ein wenig das Menschenbild.


Teil 1: Eva Richter über Stammzellforschung
im Rheinland
Teil 2: Fabian Kröger über genetische Forschungen
in der Psychiatrie
Teil 3: Dietmar Dath und Dieter Kalcic über Nanobiotechnologien
Teil 4: Ralph Ahrens und Thomas Schweiger über
Biopiraterie und Genhandel
Teil 5: Marko Belser befragt Birgit Mütherich zum Thema Tierklonen und Biomedizin