Recht auf Rausch

Der Choreograph Mehdi Farajpour inszeniert auf

dem Sommerblut-Festival »Das Frühlingsopfer«

Im Gewühl der Stadt hält die Mutter ihr Kind an der Hand. Der Kontakt löst sich. Wem soll das Kind hinterherlaufen? Alle Frauen sehen gleich aus, schwarz, von oben bis unten mit Stoff bedeckt. Zu dieser Art von Verlorenheit zählt der iranische Choreograph und Konzeptkünstler Mehdi Farajpour auch das von ihm vermutete Gefühl der Verhüllten, ausgelöscht zu sein, nicht wiedererkennbar als Mensch und Frau. 

 

Farajpour, der beim Sommerblut-Festival seine Arbeit »Das Frühlingsopfer — corps oubliés« zeigt, hat diese Zeit als Kind erlebt. 1980 in Teheran geboren, war er sieben Jahre alt, als das Mullah-Regime seine Mutter, Schwestern und Tanten unter den Schleier zwang und sie so zu verbotenen, vergessenen Körpern deklarierte: corps oubliés. Er nennt sie »Sayeh«, Schatten. Als solche huschen 16 Tänzerinnen in Farajpours Multimedia-Inszenierung von 2014 über einen mit arabischen Schriftzeichen bedeckten Boden, eine Videoanimation. Allmählich erhalten sie eigene Namen, Körper und Haut, die unterm Tuch hervor ans Licht kommen. Die Musik »Le Sacre du Printemps« von Igor Strawinsky macht daraus ein Opfer für die Freiheit. Tanzen als das Recht auf Rausch.

 

Farajpour studierte Schauspiel, bis er den Tanz entdeckte: Auf einem Foto der amerikanischen Tänzerin Martha Graham sah er etwas Kraftvolles, das über das wortfokussierte iranische Theater hinausging, erklärte er in einem Interview. Bei Reisen nach Finnland, Polen und Kroatien sammelte er Erfahrungen im experimentellen Zeitgenössischen Tanz, die Einführung von Satellitenfernsehen und Internet ermöglichte auch Iranern Einblicke ins internationale Tanzgeschehen. Dass die erste Tanzschule offiziell eröffnen durfte, motivierte Farajpour, eine eigene zu gründen. Es lief gut, er choreographierte und bekam Preise; bis er eines Tages vor verrammelter Tür und einem Wächter stand. Geschlossen! Auch andere Tänzer und Choreographen wurden drangsaliert, einige verurteilt.

 

Er verließ das Land. Den Namen seiner Tanzkompanie »Oriantheatre« nahm er 2011 nach Paris mit. Ebenso seine tiefe Verbundenheit mit der persischen Poesietradition und dem Sufismus. Er versuche, Worte und Atmosphären der Gedichte in Gesten zu übertragen, »als offene Übersetzung«. Sie grundiert auch die von ihm entwickelte Unterrichtsmethode des »Leeren Körpers« zwischen Reglosigkeit und Bewegung. Erst später bemerkte Farajpour die Ähnlichkeit zum japanischen Butoh-Tanz, der nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war. Vielleicht kein Zufall, denn auch Farajpour lebt mit der Erinnerung an Sirenen, Bomben, Schreie, den Krieg gegen den Irak während seiner Kindheit. »Das war normal«, sagt er.

 

Ruhe dagegen fand er seltsam. Seitdem forscht er in kraftvollen, preisgekrönten Inszenierungen nach dem Wert der Stille.

 

»Frühlingsopfer — Corps oublié«,
C: Mehdi Farajpour/Oriantheatre,
13.5., Bühne der Kulturen, 20 Uhr